
Reihe: Edition Metzengerstein Band 19
Titel: Dunkle Engel
 Originaltitel: Darker Angels
Autor: S. P. Somtow
Übersetzung: Christel Roßkopf
 Verlag/Buchdaten: Festa Verlag, 2001, Seiten: 316, ISBN: 3-935822-09-X
Eine Rezension von Frank Drehmel
S. P. Somtow ist das Pseudonym des 1952 in Bangkok geborenen  Multitalents Somtow Papinian Sucharitkul. Als Spross einer thailändischen  Aristokratenfamilie begann er seine künstlerische Karriere als Komponist  avantgardistischer Musik und versuchte sich dann ab den späten 70ern -  mit großen Erfolg, wenn man der Anzahl der Award-Nominierungen Glauben  schenkt - als Roman- und Kurzgeschichtenautor in den unterschiedlichsten Genres;  kurze Abstecher in den Bereich des Films - als Regisseur, Autor, Produzent oder  Komponist - runden das Bild eines sendungsbewussten, kreativen Menschen ab.  Im Jahr 2001 besann sich Somtow seiner Wurzeln, der Musik, und zeichnet seit  dem für eine Vielzahl klassischer musikalischer Projekte in seiner Heimatstadt  Bangkok verantwortlich.
Der im Original 1997 erschienene Roman Darker Angels macht es dem Rezensenten  nicht leicht. Wegen des komplizierten Aufbaus - nicht ohne Grund lässt  der Autor seine Hauptprotagonistin an einer Stelle sagen: "Geschichten  in Geschichten in Geschichten. Und jedesmal war eine weitere nötig, um  die vorangegangene zu erklären." - ist eine Inhaltsangabe, die  über den Hauptplot hinausgeht, kaum möglich. Doch dieses Wenige soll  geleistet werden.
Man schreibt das Jahr 1865. Die Witwe Paula Grainger trifft  vor dem in New York aufgebahrten Leichnam Abraham Lincolns den berühmt-berüchtigten  Dichter Walt Whitman. Augenblicklich zieht der alte Mann sie in seinen Bann  indem er behauptet, Dinge zu wissen, die ihr aufgeklärtes Weltbild auf  den Kopf stellen.
Wenige Tage später kommen Whitman und sein jugendlicher  Geliebter, Zachary Brown, einer Einladung Mrs. Graingers nach. Und es ist Zachary,  der zu erzählen beginnt: eine Geschichte, in der ihr verstorbener Mann,  Reverent Grainger, ihre schwarzhäutige Dienerin, Phoebe, und er selbst  eine Rolle spielen, eine Geschichte, in der immer neue Protagonisten, u. a.  Edgar Alan Poe und Lord Byron, die Bühne betreten; eine Geschichte, die  Schritt für Schritt weiter in die Vergangenheit, auf Schlachtfelder und  Sklavenfarmen und tief in die afrikanische Mythologie führt.
Schließlich erkennt Mrs. Grainger, dass die Leben all der Menschen aus  den Geschichten in den Geschichten zu einem bestimmten Zweck verknüpft  sind und dass auch in ihr selbst der Geist der Leopardin namens Eleuthera, was  nichts anderes heißt als "Freiheit", wohnt.
Vor dem Hintergrund des amerikanischen Abolitionismus entwirft Somtow auf hohem sprachlichen Niveau in eindringlichen Bildern eine Geschichte düsterer Schönheit und Faszination, lässt afrikanische Mythen und haitianischen Voodoo-Kult in einer nicht zuletzt wegen der Einbindung historischer Persönlichkeiten sehr real erscheinenden Vergangenheit lebendig werden.
Der Aufbau des Romans ist - wie angedeutet - sehr kunstvoll  gestaltet: ausgehend von der Gegenwart Paula Graingers, dem Jahr 1865, entwickelt  sich die Handlung in Teilen quasi rückwärts, verästelt sich in  der Vergangenheit und jeder "Ast" wird von einem anderen Protagonisten  bestimmt. Der Leser muss sich mit mehreren Ich-Erzählern auseinander setzen,  von denen jeder einen Teil zu einem komplexen Muster, dessen Grundgerüst  - die Gegenwart - immer wieder durchscheint, beiträgt.
Dadurch, dass  der Autor einerseits die Protagonisten ihre Biografien selbst erzählen  lässt, andererseits aber auch andere ein Urteil über sie fällen,  sind die Figuren allesamt äußerst differenziert gezeichnet und sprengen  simple Schwarz-Weiß-Schemata. Somtows Charaktere sind nicht per se gut  oder böse, sind keine statischen Figuren, sondern entwickeln sich und zeigen  zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Biografie unterschiedliche Facetten ihres  Wesens.
Unklar bleibt, welchem Genre sich Somtows Roman zuordnen  lässt. Ich persönlich würde ihn eher dem magischen Realismus  zuschreiben, weil in der zentralen Figur der Paula Grainger Mythos und Logos  eine vollkommene Synthese eingehen. Ganz in ihrer Zeit verhaftet, im Bewusstsein  der technischen Segnungen auf der einen und der moralischen Verworfenheit der  "Moderne" auf der anderen Seite, ist sie in der Lage und Willens,  die Magie zu akzeptieren.
Andere mögen das Buch auf Grund der zuweilen  recht drastischen Bilder und der düsteren Spannung eher dem Horror-Genre  zurechnen. Doch hier gilt es zu bedenken, dass es nicht die metaphysischen Aspekte  - die Leichen verzehrenden Zombies, die schwarzen Götter und Engel - sind,  die das Grauen im Leser wecken, sondern es sind jene Dinge, die Menschen Menschen  antun: der Tod auf dem Schlachtfeldern des Sezessionskrieges oder die Unmenschlichkeit  der Sklaverei. In deutlicher Abgrenzung zum ganz irdischen Horror steht das  Übernatürliche bei Somtow für individuelle und kulturelle Identität,  für Gerechtigkeit und Befreiung des Menschen aus einer sich selbst auferlegten  Knechtschaft.
In gewisser Hinsicht ist Darker Angels damit auch ein politischer Roman,  eine Anklage gegen Rassismus und Intoleranz. Bemerkenswerterweise unterliegt  Somtow nicht der Versuchung, das Bild des "edlen Negers" zu zeichnen;  auf Grund der gesellschaftlichen Situation im Amerika Mitte des 19. Jahrhunderts  sind die Schwarzen bei ihm zwar in der Regel Opfer und erhalten damit von vornherein  einen Sympathiebonus, doch auch sie laden Schuld auf sich, während auf  der anderen Seite selbst die Weißen auf Erleuchtung und Erlösung  durch die schwarzen Götter hoffen können.
Fazit: Ein hohes sprachliches Niveau, eine kunstvoll konstruierte Geschichte und eine bedrückend intensive Atmosphäre machen Dunkle Engel zu einem Meisterwerk der phantastischen Literatur!
