14.06.2008

2377

Ein penetrantes Wecksignal reißt mich aus dem dumpfen Schweben zwischen Wachsein und Schlafen. Surrend öffnet sich die Stasiskapsel während die Nährlösung noch gurgelnd abläuft. Ein kurzer, eisig kalter Luftsog bläst die letzte dünne Schleimschicht von meinem Körper und trocknet dabei auch meine Unterwäsche.
Gähnend richte ich mich auf und erblicke das Ziel meiner Reise als großer, grauer Klotz, der bereits fast den gesamten Bildschirm der Fähre ausfüllt.
Auf dem Computerdisplay erscheint die geschätzte Ankunftszeit. 23:12:09. Also noch knapp eine Viertel Stunde bis zu den manuellen Andockmanövern. Nicht genug Zeit für ein Frühstück, aber noch schnell unter die Dusche. Die Nährlösung stinkt bereits wie vergammelter Fisch.
Neben mir wachen nun die anderen auf. Kopilot, Navigator und Techniker. Wir müssen alle wach sein zur Übergabe.
Wobei wir nicht wissen was da unten eigentlich in diesen Containern ist. Vor sechs Monaten haben wir das Zeug gebunkert und uns dann auf die lange, schwierige und gefährliche Reise gemacht. Die Reise zum Mars, einst der rote Planet. Jetzt grau vor schwerem Nebel und Regenwolken, hoffentlich bald grün vor Vegetation.
"Statusbericht?"
"Raumpiraten haben versucht sich anzuhängen. Bruder hat sie abgeschossen bevor sie nah genug waren. Keine Überlebenden", antwortet der Navigator.
"Der Ankauf der alten Laser hat sich also gelohnt", gab der Techniker seinen Senf dazu. Ein kleiner, korpulenter Typ der immer überlegen musste welchen Schraubenzieher er jetzt verwenden musste. Aber gutes Personal ist teuer, und an Geld mangelt es fast allen. So gebe ich mich mit der zweiten Wahl zufrieden und hoffe, dass bald die Kasse klingelt.

Manuelles Andocken an der Pathfinder-Station. Jedes Andocken ist eine Gratwanderung, die die absolute Aufmerksamkeit der Besatzung und ein gut koordiniertes Team benötigt. Der kleinste Fehler kann ein Inferno auslösen, der das Schiff verschlingt. Technologie wie zu Opas Zeit.
Wir sind jetzt im Stande Planeten zu terraformen, sodass sie erdähnlich werden. Doch hier haben wir wohl versagt, oder kein Geld übrig gehabt.
Doch wir überleben das Andocken und gehen nun in den Laderaum um das Umladen vorzubereiten. Dafür müssen wir die Container öffnen und sehen zum ersten Mal was so wichtig ist, dass unsere nicht gerade billige Firma angeheuert wurde.
Ich staune nicht schlecht als ich es sehe. Tannenbäume. Mehr als einhundertfünfzig einfache Tannenbäume wie es sie auf der Erde zu Tausenden gibt.
Die Crew gibt ihre Kommentare, doch bevor eine Diskussion beginnen kann erscheint der Chefverlader der Pathfinder-Station und macht uns Dampf. Er erinnert mich an unseren Techniker und scheint denselben IQ zu haben. Ob die beiden verwandt sind?

Außer den Kolonisten und der Operationsleitung ist es niemandem gestattet Fuß auf den Mars zu setzen. Noch nicht, um das noch schwache ökologische Gleichgewicht nicht zu stören.
Ist mir ehrlich egal, mein Konto ist wieder voll, die Passage samt Zinsen reicht bis zu meiner Rückkehr auf die Erde aus um dann ein paar dringend benötigte Ersatzteile zu kaufen. Vorausgesetzt meine Frau stellt nicht sofort alles auf den Kopf.
Meine Frau. Wieder ein Jahr gealtert bis ich zurückkomme. Ein negativer Effekt der langen Reise ist der Zeitunterschied. Wir sollten beide mittlerweile um die vierzig sein. Sie ist es auch, ich bin knapp 26. Den Rest verbrachte ich in Stasis auf Reisen zum Mars, zur Venus oder nach Europa. Europa, das erste erfolgreiche Terraformingprojekt. Bis es abgebrannt ist. Eine lustige Geschichte, und da wir Zeit haben will ich sie erzählen. Zeit zum Abdocken: 01:30:23.
Europa war nicht der erste Versuch einen Planeten bewohnbar zu machen. Projekte von Resort&Life sowie FutureLands liefen bereits als die bis dato unbekannte kleine Firma NewTerra eines religiösen Fundamentalisten den Auftrag bekam Europa urbar zu machen. Seltsamerweise war er erfolgreicher als die anderen Firmen, was wohl auf die bereits vorherrschenden Bedingungen zurückzuführen war. Schon im späten 20. Jahrhundert vermuteten Wissenschaftler, dass Europa sehr erdähnlich sein könnte.
Immerhin brauchte NewTerra knapp fünf Monate um den Planeten mit Flora und Fauna sowie einer Atembahren Atmosphäre auszustatten. Als die Terraformprozesse beendet waren, sollten Kolonisten in das neue Paradies weit, weit weg entsandt werden. So brachen sie auch auf, doch 24 Monate später fanden sie eine rote Hölle vor. NewTerra hatte wohl an Material gespart und so hatte ein Atmosphärenumwandler eben diese Atmosphäre entzündet und alles verbrannt. Die Kolonisten kehrten schlecht gelaunt an einem 24. Dezember zurück und ließen sich im Asteroidengürtel nieder. Seitdem treiben sie als Raumpiraten ihr Unwesen. Besser bekannt als Nicolaus und seine Erzengel. Das hat man davon wenn man Fanatiker wegschickt.
00:49:13.
Noch immer viel Zeit. Was kann ich sonst erzählen?
Mein erstes Weihnachten im Weltall erlebte ich mit 13. Meine Eltern konnten es sich endlich leisten auf den Mond umzusiedeln und die damalige Müllkippe Erde zu verlassen. Rückblickend wohl eine schlechte Entscheidung. Ein Jahr später erließ der Senat ein Reinheitsgesetz. Als Ergebnis sattelten alle großen Unternehmen um und zogen auf den Mond. Die Erde kam innerhalb weniger Jahre wieder auf einen wahrlich grünen Zweig und wurde wieder zur Perle im Sonnensystem. Blaue Ozeane, grüne Wiesen, Dschungel und Berge. Ein Urlaubsort für jedermann.
Der Mond wieder wurde trotz des Fehlens natürlicher Rohstoffe zu einer Müllkippe bis ein japanisches Konsortium auf die Idee kam ihn auszuhöhlen und den Fels zu verkaufen. Der Mond kollabierte. Die größte Katastrophe des Jahrhunderts.
Aber als ich auf den Mond kam war es noch schön. Grüne Baumplantagen unter gigantischen Glaskuppeln, dazwischen kleine, saubere Wohnanlagen aus Mondgestein. Geschäfte, Schulen, Bibliotheken, Museen und Denkmäler. Meine Eltern sprachen von der netten kleinen Siedlung im Vorort.
Ich konnte damit nichts anfangen. Ich war in Westtown, der Großstadt auf dem Kontinent Europa aufgewachsen. Ich kannte nur die Gassen rund um den Stadtteil Schweiz, die Expressbahnen nach Deutschland und Frankreich, wo ich zur Schule gegangen war, und die Expressbahn in den Stadtteil Finnland weil dort der Badesee und die Erholungsanlagen waren. Von all dem anderen habe ich nicht viel gesehen, wobei es von wunderschön bis abstoßend schrecklich ja alles geben soll. Keine Ahnung, aus dem Weltall wirkt Westtown wie ein kleiner Fleck im Nichts im Verhältnis zu Easttown, das sich über Asien und Nordafrika bis zu der Grenze der Wüste erstreckt. Am eindruckvollsten von oben ist aber Centraltown. Der gesamte amerikanische Kontinent ist davon eingenommen, die Anlagen reichen aber weit in den Pazifik hinunter und die Expresslinien nach East- und Westtown verlaufen wie schmale Adern über den Ozean.
So war diese kleine urbare Gegend auf dem Mond die sich schlicht und einfach Mondbasis 1 nannte für mich eine ganz neue Erfahrung. Ein Weihnachten, das nicht durch die Geschenke in meiner Erinnerung blieb, sondern vielmehr durch das ganze Drumherum.
In der Hauptmensa von Mondbasis 1 war ein Plastikbaum aufgestellt, der bis unter die Glaskuppel reichte weil es einfach sinnlose Verschwendung gewesen wäre ein Objekt auf der Baumfarm zu entfernen. Im Schatten dieses Baumes standen Tische und Bänke für alle Bewohner der Anlage, was in Summe keine 300 Leute umfasste.
00:20:00.
Startvorbereitungen einleiten. Einen Moment bitte.
"Alle Mann auf ihre Stationen. Startvorbereitungen beginnen ab jetzt. Start des Triebwerksvorlaufs, Lösen der Halteklemmen vorbereiten. Externe Sauerstoffversorgung kappen und auf Umluftverwertung umschalten. Checkliste beginnen."
Wo waren wir? Das erste Weihnachten fern der damaligen Müllhalde Erde.
Zum Essen gab es Rinderbraten in süßsauerer Soße, gefüllten Truthahn und Tofu. Dazu Unmengen von Beilagen, Salaten und süßen Dingen. Beinahe verschwenderisch viel, aber wie sich am Ende zeigte genau abgewogen, sodass jeder satt werden konnte und alle Teller bis auf wenige Krümel leer wurden.
Da ich erst vor einigen Tagen auf den Mond gekommen war, war dieses Fest auch die erste Gelegenheit ein paar Freundschaften zu schließen. Die nächsten Tage erkundete ich dann die Anlage, lernte die besten Verstecke und geheimen Zugänge kennen und wurde schnell als Tunnelratte bekannt, die in jeden Schlumpfwinkel kam.
So verging die Zeit bis Februar. Dann wurde ich in die Eliteklasse versetzt. Die rosigen Zeiten mit Spiel, Spaß und Freude war vorbei und wurden abgelöst von der Zeit der Gelehrsamkeit, der Ruhe und des Lernens.
00:10:00.
"Checklisten komplett. Alle Systeme auf grün. Erster Trupp Schlafkapseln beziehen." Der Reihe nach verlöschen die Bildschirme der Konsolen und außer mit und dem Navigator verschwinden alle in der Stasis. Jetzt haben wir noch zwei Passagiere aufgenommen. Begutachter der planetaren Regierung, die Kofferweise Datenkristalle mit ihren Ergebnissen mitführten. Tannenbäume gegen zwei Anzugträger mit mehr Informationen als mein Schiffscomputer verarbeiten könnte.
Seltsame Zeiten sind das, Weihnachten 2377. Ob ich meiner Frau einen Gruß senden soll? Wäre wohl sinnlos, die Nachricht käme gegen Mitte Januar erst an. Vorausgesetzt irgendein Satellit leitet sie nicht falsch um, verstückelt sie oder lässt sie gar ganz verschwinden.
00:05:31.
Es ist wohl Zeit diesen Eintrag zu beenden und mich selber vorzubereiten. Die Abdockprozedur ist bereits eingegeben und muss nur noch begonnen werden. Sauerstoff- und Treibstofftanks sind voll, Notfallsysteme an meinen Kapseln angeschlossen. Wenn was sein sollte werde ich innerhalb einer Minute wach und einsatzbereit sein, gepusht durch eine Ladung Adrenalin.
00:03:10.
Ich nehme Platz in meiner Kapsel. Der Rest ist bereits wieder in der Schwebe zwischen Wachsein und Schlafen. Mahlend bewegt sich der Kiefer von unserem Dicken. Er träumt wohl wieder vom Essen.
Gähnend lege ich mich hin und schließe die Kapsel. Prozess beginnen, Aufzeichnung ende.
Ob die Sicherheitssysteme aktiviert worden sind? Vielleicht begegnen wir beim Zurück den Piraten. Ich muss noch schnell ... das kann warten.
Dunkelheit. Schwebe zwischen Wachsein und Schlaf. Bis in sechs Monaten.

Nicolai Rosemann