16.06.2008

Begegnung bei Nacht

Eisige Nacht herrschte, als sie durch die verlassenen Straßen der Stadt lief.
Die Arme fest um den Körper geschlungen und den Kopf gesenkt irrte sie ziellos umher.
Sie zog den Kragen ihres Parkers soweit es ging über die Ohren und vergrub ihr Kinn darin. Die
Kapuze des dünnen Pullovers schlug jedes Mal vom heftigen Wind erfasst wieder zurück und sie
versuchte, sie tiefer ins Gesicht zu ziehen. Ein verzweifelter Versuch, sich vor der beißenden Kälte zu schützen.
Der Wind heulte gespenstisch und raschelte stürmisch in den Baumwipfeln, die bedrohlich
schwankten und unheimliche Schatten warfen.

Sie hauchte abermals in ihre Hände, doch der heiße Atem genügte kaum, das taube Gefühl in ihren Fingern zu vertreiben. Der eisige Wind schien bis in ihren Kopf einzudringen und sie versuchte den Nebel, der sich um ihre Gedanken legte, zu vertreiben, gegen die lähmende Umarmung der Kälte anzukämpfen.
Fest rieb sie die Hände aneinander, so fest, dass es hätte wehtun müssen, doch Schmerz spürte sie schon lange nicht mehr, nicht mehr körperlich. Nur tief in ihr nagte er an ihrer Seele, ihrem Geist.

Als sie an einer Kirche vorbeikam, sah sie eine gebeugte Gestalt, die auf den Stufen saß. Sie
blinzelte in die Dunkelheit und erkannte einen Mann mit grau meliertem Haar und zerschlissenem Mantel, er war älter als sie, doch wie alt vermochte sie nicht zu schätzen.

Dann sah er auf und obwohl sie sein Gesicht nun deutlich sehen konnte, konnte sie seine Augen
nicht erkennen. Es war, als lägen immer alle Schatten auf ihnen, egal wohin er blickte. Für einen
winzigen Moment glaube sie, dass seine Augen alles Licht in sich aufsaugen würden, vergaß diesen Gedanken aber sofort wieder. Zurück blieb ein Gefühl, das sie irgendwo ganz tief drinnen bis aufs Mark berührte.

"Komm her", sagte er plötzlich mit alter Stimme, "es wird gleich regnen."
Überrascht blickte sie in den Himmel. Jeden Stern hätte man sehen können, kein Wölkchen
bedeckte den Mond.

"Ich denke nicht, dass..." noch ehe sie ihren Satz beenden konnte, fiel ein erster Tropfen mitten auf ihre Nase und ließ sie verstummen.
Verblüfft sah sie wieder zu dem Mann. Sein Gesicht war von Hunger und Elend gezeichnet, dunkle Ringe lagen unter den noch immer nicht erkennbaren Augen, er hatte einen typischen Drei-Tage- Bart und lächelte müde. Und doch lag eine Schönheit in ihm, die sie nicht beschreiben konnte. Seine Züge wirkten auf eine unbeschreibliche Weise edel und weise, sie war sich sicher, dass er nicht immer auf der Straße gelebt hatte.

Der mittlerweile heftiger werdende Regen prasselte beharrlich auf sie nieder, während sie noch
immer ihren Gedanken nachhing.
"Na los, komm schon", die Stimme riss sie aus ihrer Trance, "ich tu' dir nichts!"
Sie schüttelte eilig den Kopf, atmete einmal tief durch und sah einen Moment lang zögernd auf
ihren kondensierten Atem. Dann lief sie schnell zu den Stufen und nahm neben dem Mann Platz.
Und plötzlich schämte sie sich. Sie, die es ihr eigentlich an nichts zum Leben mangelte, saß hier,
neben einem Obdachlosen. Sie hatte kein Recht dazu, fand sie, ihr ging es nicht halb so schlecht wie ihm. Und doch...

"Mach' dir keine Sorgen“, er lächelte gütig, "jeder braucht ein bisschen Schutz an solchen Tagen."
Hatte er ihre Gedanken gelesen? Sie wusste es nicht, nickte nur.
An solchen Tagen, hatte er gesagt. Ja... gestern noch war alles anders gewesen.
Sie dachte daran, wie sie müde nach der Beerdigung ins Bett gegangen war. Etwas weiches, warmes hatte sich an sie ihre Beine gedrückt und sich dann neben sie gelegt. Ihr Kater, Flash Gordon, benannt nach einem alten Comic-Helden, funkelte sie aus smaragdgrünen Augen an, bevor er sie in den Schlaf schnurrte.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, war ihr schwarz-weiß getigerter Freund bereits fort.
Sie ging in die Küche und als ihr Blick auf die Fliesen fiel, schlug sie die Hand vor den Mund und
taumelte schockiert gegen den Türrahmen. Ihr wurde schlecht.
Mit klopfendem Herzen starrte sie auf Flash Gordon, der inmitten der Küche lag, sein Körper
merkwürdig verdreht. Die Pfoten lagen verrenkt halb unter seinem Körper, das Genick war
gebrochen und unnatürlich weit nach hinten gebogen. Der Kater stierte ihr aus aufgerissenen Augen entgegen. Er war tot, vermutlich unglücklich vom Schrank oder dem Tisch gefallen.

Der Anblick der toten Katze ließ sie würgen, Tränen schossen ihr in die Augen. Nicht auch noch er, dabei war er doch ihr einziger Trost. Das war zu viel, viel zu viel. Sie presste die Hand fester auf den Mund und rannte aus dem Haus.
Sie hatte nicht bemerkt, wie viel Zeit seither vergangen war, dass sie einen ganzen Tag über einfach so durch die Gegend lief.

Als sie sich nun umsah, stellte sie fest, dass sie gar nicht richtig wusste, wo genau sie sich befand.
Neben irgendeinem Fremden, und wer weiß, er konnte sogar gefährlich sein. Aber würde sich
jemand mit bösen Absichten ausgerechnet Schutz bei einer Kirche suchen?

"Wunderschön..."
Sie sah zur Seite und blickte ihn fragend an. Er deutete mit dem Kinn in Richtung eines
Rosenstrauchs. Sie folgte seinem Blick und entdeckte lauter Knospen und Blüten von Pfingstrosen,
auf die der Regen trommelte.
"Aber was soll schön daran sein, der Regen wird sie zerstören...", warf sie ein.
Doch der Mann schüttelte den Kopf. „Manchmal scheinen die Dinge nur auf den ersten Blick
zerstört.“
"Ich verstehe nicht..." "Schau genau hin!" Sie tat wie ihr geheißen und betrachtete die Rosen
genauer. Da! Jetzt sah sie es, der Regen zerstörte nicht die Blüten, vielmehr brachte er sie dazu, sich zu schließen. "Manchmal muss man das Leben verstecken, um es zu schützen."
"Aber manchmal kann man es nicht schützen..." meinte sie leise, "und dann kann man sich auch
nicht mehr beschützen lassen."

Sie schwiegen eine Weile, dann vernahm sie das Rascheln seines Mantels, als er sich vorbeugte, um eine Blüte abzupflücken. Dabei fiel etwas aus seiner Manteltasche, was er augenscheinlich nicht bemerkte. Es war ein zerfetztes und abgenutztes kleinen Notizbuch.
Nachdenklich ließ er sich zurücksinken und drehte die Blüte zwischen seinen behandschuhten
Fingern.

Sie zögerte kurz, rutsche dann ein winziges Stück vor und hob das Buch auf. Sie warf einen Blick
zur Seite, doch es machte ihm offensichtlich nichts aus. Die Seiten waren vergilbt und teilweise
zerfetzt. Doch was sie am meisten verwunderte, war die Tatsache, dass es vollkommen leer war.
Zeitungsausschnitte lagen lose zwischen den Seiten. Sie nahm einen davon und versuchte zu
entziffern, was die Zeit hatte verblassen lassen. Als sie das Foto sah, weitete sie verblüfft die
Augen.
"Frecce Tricolori !" stieß sie überrascht aus. Die Kunstfliegerstaffel war auf dem Bild abgedruckt, in bunten Farben flogen die Piloten ihre Runden. Es war der Tag, an dem das Unglück passierte, der Tag, der so viele Leben forderte...

"Wieso trägst du das bei dir?" fragte sie unvermittelt. "Ich war dort", antwortete er knapp.
Sie öffnete überrascht den Mund. "An dem Tag? Ich meine, als das hier..." sie deutete auf den
Zeitungsausschnitt und blickte ihn dann an. Seine Miene war unverändert.
"Warst du unter den Zuschauern?" Er schwieg weiter.

"Tut mir leid, ich wollte nicht..." "Es ist in Ordnung." Er räusperte sich.
"Ja, an dem Tag war ich dort. Ich war dabei." "Oh mein Gott...", sie schluckte schwer, "das muss
schrecklich gewesen sein."
Er zuckte mit den Schultern. "Nun, eigentlich war es sehr alltäglich."
"Was?!" Sie wich instinktiv zurück und sah den Mann entsetzt an.
"Der Tod ist allgegenwärtig", fuhr der alte Mann fort, "daran ist nichts Schreckliches."
"Wie kannst du so etwas sagen!" Entrüstet warf sie ihm das kleine Buch in die Arme. "Du hast nicht das Recht, das zu sagen! Der Tod ist grausam, er ist unmenschlich, einfach nur unfair und
zerstörerisch."
Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde und ihre Augen brannten. "Er hat mir so viel genommen, wie kann das nicht schrecklich sein?"
"Du hast jemanden verloren", antwortete er ruhig, "es ist nicht lange her. Aus deinen Worten spricht tiefe Trauer und Zorn, das ist normal."
"Gar nichts ist normal!", schrie sie ihn an, verzweifelt gegen die Tränen ankämpfend, "Was weißt
du schon! Ja, ich bin traurig, und ja, wütend bin ich auch. Sehr wütend. Ich habe meinen Bruder
verloren, und dann auch noch den einzigen Freund, der mir Trost spenden konnte."

Ihre Stimme brach, sie konnte nicht mehr reden. Wehmütig dachte sie an den Morgen zurück. Nie wieder würde sie ihr Gesicht in dem weichen Fell der Katze verbergen, nie wieder das Lachen ihres Bruders hören.
Sie schluchzte.

"Tod ist nicht das Gegenteil von Leben", meinte der Mann plötzlich. Sie verstummte und sah ihn
aus tränenüberströmtem Gesicht an.
Dann fuhr er fort: "Das Gegenteil von Tod ist Geburt. Das Leben ist nur der Schritt dazwischen, der
Weg, dessen Abbiegung der Tod ist."
"Du meinst, der Tod ist sein Ende", warf sie bitter ein.
"Nein."
Die Ruhe, mit der er sprach, machte sie schier wahnsinnig.
Armer, alter Mann... wie lange mochte er wohl schon hier leben? Er war verwirrt, das musste es
sein.

"Das Leben endet nicht mit dem Tod, es ist nur ein weiterer Schritt auf der Reise." Als er daraufhin nur eine stumme Frage erntete, setzte er sich aufrecht hin und sah gerade aus.
"Der Tod ist wie das Universum", begann er, "es ist unendlich groß, unerforscht und fremd. Und
weil es so fremd ist, wirkt es auf die meisten bedrohlich.
Nehmen wir einmal die schwarzen Löcher. Die Menschen wissen, dass es im Universum
massenhaft dieser Phänomene gibt. Doch nur, weil sie gefährlich sind, muss das nicht heißen, dass es nicht auch andere Dinge gibt.
Wie viel weißt du über schwarze Löcher?"

Die Frage kam so unvorbereitet, dass sie einen Moment brauchte, um eine Antwort zu formulieren.
"Nun, nicht viel." Sie trippelte mit ihrem Fuß auf der Treppe auf und ab. "Sie verschlingen Licht."
"Ja, das tun sie. So, wie der Tod Leben verschlingt, nicht wahr?"
Sie wandte den Kopf und er fuhr fort: "Doch hast du mal darüber nachgedacht, wo das Licht landet?
Es ist nicht plötzlich weg. Niemand kann sagen, wieweit der Ereignishorizont eines schwarzen
Loches reicht, wohin er greift. Denn niemand kann es ausprobieren und anschließend davon
berichten.
Und nicht anders ist es mit dem Tod."

Sie dachte über diese Worte nach und plötzlich waren ihre Gedanken auf merkwürdige Weise klar,
gestochen scharf konnte sie die Wahrheit erkennen, die einzig richtige, das große Ganze. Es war nur ein winziger Augenblick, weniger als ein Herzschlag lang, da war es zum Greifen nahe. Doch je mehr sie sich bemühte, den Gedanken festzuhalten, um so mehr entglitt er ihr. Zurück blieb nur tiefe Leere.
Als sie den Mann erneut ansah, hatte sich etwas verändert. Sie wusste nicht genau, was es war, doch es war nicht der selbe, alte, gebrechliche Mann wie noch Augenblicke zuvor.
Er wirkte plötzlich jünger, kraftvoller. Die Stimme, mit der er eben gesprochen hatte, wirkte nicht mehr brüchig, rau und dünn. Viel eher dunkler, tiefer und auf eine gewisse Weise auch irgendwie geheimnisvoll.
Sie erschauderte, Gänsehaut kroch ihr über den Rücken. War es eben schon so kalt gewesen?

"Deine Worte klingen so... wahr." Sie war selbst überrascht über das, was sie sagte.
"Ich möchte dir gern glauben, dass es irgendwie weiter geht. Doch es tut so weh..."
"Ja, das weiß ich. Und es wird immer weh tun.
Doch es wird sein wie eine Wunde. Zunächst wird es schmerzhaft sein, mit der Zeit wird sie
verheilen und schließlich bleibt eine Narbe. Sie schmerzt noch, wenn man sie berührt, aber man
kann damit umgehen.
Es wird leichter, ich verspreche es dir."
Sie lächelte traurig. "Du kennst dich wohl aus, was?"
"Ich habe lange Erfahrung", antwortete er nur. Dann bedachte er sie mit einem merkwürdigen Blick.
"Du sollst es leichter haben, mir zu glauben."

Sie zog die Knie an und zupfte nervös am Saum ihres Parkers.
"Achja, und wie?" wollte sie wissen.
"Ich mache dir ein Geschenk. Es ist die absolute Ausnahme, doch du sollst wissen, dass der Tod
nicht der Böse ist. Eigentlich bist du gar nicht auf ihn wütend, sondern auf dich selbst. Auf alles und auf nichts."
Sie wusste, dass er Recht hatte.
"Du sprichst von dem Tod wie von einer Person, einem alten Freund..."
Der Mann lächelte geheimnisvoll und zum ersten Mal konnte sie seine Augen sehen. Sie waren
unendlich wie das Universum, tief schwarze Dunkelheit war in ihnen und doch waren sie so bunt
und schillernd als spiegele sich das Polarlicht selbst darin wider.

Die Kälte, die sie empfand, schien von dem Mann auszugehen, und obwohl sie fröstelte, verschaffte
es ihr angenehme Klarheit.
Jedenfalls wenn man von den Streichen absah, die ihre Augen ihr spielten. Wie lange hatte sie nicht mehr geschlafen?
Der Mann wirkte blasser, fast, als wäre er gar nicht richtig hier. Sie musste wirklich sehr erschöpft sein.
Sie schloss müde die Augen und ließ den Wind über ihr Gesicht streichen. Als sie die Augen wieder öffnete, war der Mann verschwunden.

Tief durchatmend stand sie auf.
Als sich etwas Warmes, Weiches an ihre Beine drückte, lächelte sie zufrieden. Sie sah hinab und
blickte in die funkelnden smaragdgrünen Augen ihres getigerten Freundes.
Sie nahm den Kater auf den Arm und drückte ihr Gesicht in sein Fell. Ein kostbares Geschenk, das er ihr gemacht hatte, und sie dankte ihm dafür.

Was für eine seltsame Nacht, dachte sie, während sie mit ihrem Freund nach Hause ging.
Es bestand kein Zweifel, und zu ihrer größten Verwunderung schien es sie gar nicht zu beunruhigen, welch mysteriöse Begegnung sie hinter sich hatte.
Sie hatte sich gerade mit dem Tod unterhalten...

Avelina Rimada Ruiz