09.06.2008

Ein ganz normaler Tag?

Die Mittagshitze war stickig und die Taschen die Tjelle trug schienen mit jedem Schritt schwerer zu werden. Ihre Kleider klebten am Leib und das Haar schmiegte sich unangenehm an den feuchten Nacken. „So was Blödes“ knurrte sie frustriert „Warum muss schon wieder ich das Essen besorgen?“ Sie stellte die Taschen ab und strich sich die Schweißperlen von der Stirn. Das Wetter machte ihr zu schaffen, die Sonne stand hoch am Himmel und brannte ohne Gnade auf die Stadt herab. Sie schulterte den größeren Leinensack auf die andere Seite um das Gewicht zu verlagern. Die Straßen waren fast leer, nur wenige Bewohner waren um diese Zeit im Freien seit die Sonne vor 5 Tagen beschlossen hatte einfach nicht mehr unterzugehen.
Die Straße war staubig und der Asphalt schien zu glühen, leise Flüche vor sich hin flüsternd wuchtete Tjelle ihre Last durch die Stadt. Diese dumme Pute war selbst verteilt auf mehrere Taschen noch immer eine Last, langsam fragte sie sich was sie sich dabei gedacht hatte von der Arbeit aus alles nach Hause zu schleppen. Doch leider war ihre nervige Kollegin die einzige die so schnell verfügbar gewesen war. Zudem fiel ihr die Lady schon auf den Wecker seit dem sie vor knapp einem Jahr in der Bibliothek mit ihrer Arbeit angefangen hatte, in der Tjelle seit vielen Jahren zusammen mit Mr. Wisely ihren Dienst verrichtete. Es war nicht so dass es ihr besonders gefiel in der Nachbarschaft zu wildern, aber es war keine Zeit gewesen wählerisch zu sein und außerdem hatte diese Nervensäge ein williges Opfer abgegeben. Ihr entfuhr ein Kichern als sie daran dachte wie ihr das neugierige Weibstück in die Falle getappt war. Mittlerweile bereute sie es heftig dass sie das Jahr über nicht netter zu ihr gewesen war, das hätte ihr diese lästige Schlepperei erspart. Leider wäre selbst Booby Halfwit nicht so einfältig gewesen eine Einladung zu Tjelle nach Hause anzunehmen ohne misstrauisch zu werden. „Das ist meine Strafe dass ich dich ständig schikaniert habe“ murmelte sie in die Taschen hinein, während sie gedankenverloren darin rumkramte und sich einen Zeigefinger daraus mopste. Ihre Mutter hasste es wenn sie sich unterwegs am Essen bedienten, aber der Weg war anstrengend und sie war der Ansicht dass sie sich einen kleinen Happen verdient hatte. Gerade als sie herzhaft ein Stück abbeißen wollte sah sie aus den Augenwinkeln Snooky Stately, den Schwarm der gesamten weiblichen Bevölkerung von Madly Town auf sich zu schreiten. Während sie ihm ein strahlendes Lächeln zuwarf, versuchte sie unauffällig den Finger in ihrer Hosentasche verschwinden zu lassen, was ihr jedoch nicht ganz gelang. „Verdammt“ dachte sie grimmig als das Ding geradewegs vor seine Füße plumpste. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr Booby’s rechten Zeigefinger ungesehen in den nächstgelegenen Kanalabfluss zu kicken. Nach einem kurzen unbedeutendem Gespräch, welches sich wohl hauptsächlich ums Wetter drehte, was Tjelle nicht genau sagen konnte weil sie schon nach dem dritten Wort die Ohren auf Durchzug gestellt hatte, bot Snooky ihr an sie im Wagen mitzunehmen. Galant nahm er ihr bevor sie protestieren konnte eine der Taschen ab, was ihr beinahe einen Lachanfall beschert hatte bei dem Gedanken dass Booby sich immer gewünscht hatte von Snooky abgeschleppt zu werden. Während er seine Verwunderung über das Gewicht der vermeintlichen Einkauftasche zum Ausdruck brachte, betrachtete sie interessiert die zugegebenermaßen recht appetitliche Rückseite des gut gebauten jungen Mannes unter dessen Shirt sich wie eine Landkarte seine Muskeln abzeichneten. Beim Anblick seines wohlgeformten Hinterns wurde ihr ganz schummerich zumute und sie bemerkte dass ihr Magen laut knurrte. Hätte sie dies vorausgesehen, hätte sie sich nicht die Mühe gemacht sich mit der alten Booby aufzuhalten.
Als sie an der Abzweigung angelangt waren die zum Anwesen ihrer Familie führte, war sie einen kurzen Augenblick versucht ihn hinein zu bitten, ließ den Gedanken schnell jedoch wieder fallen, sie hätte ihn ja doch nicht für sich behalten können. Zu ihrem Leidwesen waren da noch ein Haufen Brüder und Schwestern mit denen sie ständig teilen musste. Nachdem sie sich verabschiedet, bedankt, die riesige Hecke und das quietschende Einganstor hinter sich gelassen hatte, machte sie sich auf den Weg zum Haus das hinter einer kleinen Anhöhe versteckt lag zu der ein dicht bewachsener Weg führte. Rechts des Weges lag ein mit Sträuchern besetztes Feld das von nordamerikanischen Saprophagen bewohnt wurde. Tjelle konnte die geifernden Aasfresser nicht ausstehen und machte sich bei jeder Gelegenheit über sie lustig. Wenn es nach ihr gegangen wäre hätte sie schon längst eine ordentliche Portion Rattengift unter die Abfälle gemischt von denen sie sich ernährten. Widerstrebend musste sie jedoch gestehen dass sie die für sie unverwertbaren Reste der Nahrung entsorgten, die schließlich nicht einfach so der städtischen Müllabfuhr überlassen werden konnten. Nichtsdestotrotz ließ sie es sich auch jetzt nicht nehmen ihnen ein paar verletzende Worte an die behaarten Köpfe zu werfen. Ihre gedrungenen kleinen Körper mit dem filzigen braunen Fell und den klauenartigen Füßen boten zu ihrem Vergnügen immer einen Anlass zum Spott. Der gutmütige alte Mr. Wisely, mit dem sie nun schon seit fast 200 Jahren einige bedeutende Schätze der Literatur hütete, hatte eine Dissertation über diese hässlichen Kreaturen verfasst die ihm weltweite Anerkennung verschaffte.
Als sie fast die Anhöhe erreicht hatte kamen ihr Jonte und Levke, ihre jüngsten Schwestern entgegen gelaufen und rissen ihr fast die Taschen aus der Hand. Während sich die beiden lauthals darüber stritten wer von ihnen die meisten Finger abbekam, betrachtete Tjelle sie leicht amüsiert. Jonte war die Jüngste von Ihnen und als einzige hier im Haus geboren worden. Sie besaß ein einnehmendes freundliches Wesen was Tjelle darauf zurück führte dass sie wie auch Levke eine ganz normale Schule besuchte, was ihre Großmutter so erzürnte dass bereits am dritten Tag nach Jontes Einschulung der erste Lehrer verschwunden war. Sie musste aber zu ihrem Leidwesen zugeben dass die Entwicklung ihrer Schwestern mitunter sonderbare Züge annahm. Zum einen ging Jonte dazu über klassische Musik zu hören und was die Familie als noch viel alarmierender empfand war die Tatsache dass sie begann sich mit Menschenkindern abzugeben ohne sie aufzuessen. Und auch Levke gab Anlass zur Sorge seitdem sie eines Tages von der Schule heimgekehrt war und ein riesiges, mit einem Delfin bedrucktes Poster an ihre Zimmerwand pinnte.
Auch das schrieb die Großmutter der liberalen Mutter zu, der sie noch immer nachtrug dass sie es vorgezogen hatte ein richtiges Haus zu bewohnen.
Die Großmutter trotzte jeder Anpassung, besann sich aufs Ursprüngliche und bewohnte weiterhin den größten und schönsten Feigenbaum auf dem Grundstück. Es war überhaupt ein Wunder dass sie mit aufgebrochen war um, für Rakshasi sehr unüblich, in der Welt der Menschen dauerhaft zu leben. Allerdings war jeder hier weit davon entfernt Madly Town auch nur im geringsten als normal zu bezeichnen. Diese Stadt war etwas das jeder wohl als das ansah was die Menschen als „Multikulturelle Gesellschaft“ bezeichneten. Hier war es möglich, jedenfalls die meiste Zeit über, friedlich zwischen den Menschen zu leben ohne den Lebensraum des anderen zu verletzen. Die überaus naiven Bürger dieser Stadt waren zweifelsohne ein guter Grund hier sesshaft zu werden. Nirgendwo sonst gab es Nahrung in dieser Menge die man nur von den Straßen zu pflücken brauchte. Und das Beste daran war dass sich kaum jemand wunderte wohin seine Mitmenschen so plötzlich verschwanden.
Nachdem sie endlich die Kühle des Hauses umgab warf Tjelle erleichtert das Hemd ab das sie tragen musste um die stacheligen Fortsätze ihrer Wirbelsäule zu bedecken, die man auch den dümmsten Menschen nicht mit einer abnormen Anatomie erklären konnte. Als sie die Wohnhalle betrat in der sich fast alle Familienmitglieder versammelt hatten um auf ihre Ankunft zu warten, wurde sie mit großem Geschrei begrüßt. In Sekundenschnelle war der Inhalt beider Taschen geleert und der Körper von Booby im ganzen Raum verteilt. Das Haus war erfüllt von Knurren, Schmatzen und lautem Geschimpfe vom Streit um die besten Stücke. Am Abend würde sie sich wieder anhören müssen dass sie viel zuwenig mitgebracht hätte. „Pah, unzivilisierte Bagage!“ knurrte sie, schnappte ihrem Bruder Raik beleidigt die Leber vor der Nase weg und verzog sich auf ihr Zimmer, den einzigen halbwegs sicheren Ort um in Ruhe zu essen ohne teilen zu müssen. Auf der Treppe begegnete sie ihrem Bruder Tjalf, der mit traurigem Gesicht und angezogenen Knien auf einer Stufe saß und laut heulte. „Was ist den passiert?“ fragte sie erstaunt, „Du heulst ja wie ein Werwolf“. Schluchzend begann das Nesthäkchen zu erzählen und gestand auf einigen Umwegen, die Tjelle getrost ausblendete, dass er, wie Großmutter herausgefunden hatte, Schuld daran trug dass die Sonne nicht mehr unterging. Sie schmunzelte bei dem Gedanken dass der Kleine scheinbar endlich seine magischen Fähigkeiten entdeckt hatte. Dass dabei kleinere Missgeschicke passierten war ganz normal und sie war beruhigt dass es sich dabei nicht um ein natürliches Phänomen handelte. Sie selbst hatte als Kind ständig gepatzt und unter anderem einmal die Pole schmelzen lassen, was einen Mordsärger gegeben hatte, vor allem deshalb weil sie bei dem Korrekturversuch eine 15-jährige Eiszeit heraufbeschworen hatte.
„Das kriegen wir wieder hin“ Tjelle nahm ihren kleinen Bruder bei der Hand und führte ihn in ihr Zimmer wo sie sich erst einmal Boobys Leber teilten. Dann besuchten sie die Großmutter auf ihrem Feigenbaum und brachten ihr ein großes Stück Hirn mit. Solchermaßen gestärkt war Großmutter bereit den Fehler von Tjalf wieder auszubügeln. Während Tjelle jedoch hörte welche Zutaten nötig waren um den Unfug wieder rückgängig zu machen, wog sie ab ob es nicht doch möglich war für immer in der sengenden Sonne zu leben. Das Herz einer Jungfrau war in Madly Town schwieriger zu bekommen als das sagenumwobene Glatisant.
Augenrollend zündete sie sich mit einem Streichholz eine Zigarette an, begann die Zutaten aufzuschreiben und verfluchte dabei ihren Bruder, der anfing Großmutters Utensilien zu durchforsten. Genervt davon wieder durch die Hitze zu müssen machte sich Tjelle in Begleitung ihrer Schwester Femke auf den Weg. Zunächst galt es alle benötigten Sachen zusammenzutragen um daraus einen Trank zu brauen den Tjalf würde trinken müssen um anschließend seine Worte zu wiederholen, die das Ganze verursacht hatten. Die größte Hoffnung lag darauf dass er überhaupt noch wusste wie er es angestellte hatte. Schweigend stapften die Schwestern über den staubigen Feldweg, der aus der Stadt hinaus zum alten Friedhof führte. Ihr erstes Ziel war die unterirdische Behausung der dort ansässigen Ghule. Bei dem Gedanken daran dass der Trank den ihr Bruder würde trinken müssen das Gehirn eines Guhles enthalten würde, drehte sich Tjelle beinahe der Magen um. Für diese Form des Kannibalismus hatte sie wenig übrig, aber der Brauch schrieb es so vor und so überließ sie diese Aufgabe ihrer weniger zart besaiteten Schwester, der es geschickt gelang einen von ihnen aus der Höhle zu locken und in ein Gespräch zu verwickeln. Unbemerkt von den anderen schaffte sie es in wenigen Minuten seinen Schädel zu spalten und das wertvolle Innere an sich zu nehmen.
Nachdem der unangenehme Teil des Vorhabens erledigt war und sie sämtliche Zutaten beisammen hatten, nahmen die beiden den Bus zur Klosterschule, in der Hoffnung dass sich dort das Herz einer Jungfrau auftreiben ließe. Wie erwartet mussten sie sich im Büro der Oberin bedienen, da sich unter keinem der anwesenden Mädchen auch nur eins befunden hatte das die Bezeichnung „Jungfrau“ tragen durfte ohne das Sternzeichen zu nennen. Plötzlich schrie Femke erschrocken auf. „Das Gehirn, es liegt noch im Bus! Ich habe meine Tasche in der letzten Sitzreihe liegen lassen“ „Wie konntest du sowas vergessen“ schrie Tjelle voller Zorn, „Wir müssen sofort den Bus finden“. Aufgeregt rannten sie die Straße entlang um den Busbahnhof zu erreichen der als Endstation eine Sammelstelle für vergessene Gegenstände beherbergte. Atemlos und mit schweißdurchtränkten Kleidern erreichten sie gerade noch die Haltestelle um zu sehen wie eine dickliche Frau mittleren Alters mit Femkes Tasche um die Ecke verschwand. „Los hinterher!“ Femke erreichte sie als erstes und versuchte sie mit aller Höflichkeit die sie aufbringen konnte dazu zu bewegen ihr die Tasche auszuhändigen, was jedoch gänzlich scheiterte. Grimmig dreinschauend schimpfte die Alte dass die Tasche nun ihr gehören würde und sich die Mädchen zum Teufel scheren sollten. Halsstarrig und uneinsichtig zerrte sie an der Tasche bis ein Riemen riss und sich der Inhalt auf dem Gehweg ausbreitete. „Auch das noch“ dachte Tjelle genervt und verhinderte im letzen Augenblick durch einen geschickten Griff dass das Geschrei der Frau weitere ungebetene Gäste anlockte. Stöhnend bei dem Gedanken diese Last nun auch noch nach Hause schleppen zu müssen sammelte sie, ihrer Schwester zur Hilfe kommend, den ganzen Kram wieder ein. „Die ist verdammt schwer“ jammerte Femke und Tjelle fragte sich was ihr der Tag noch alles bringen würde. Ungehalten fuhr sie ihre Schwester an „Geh rüber zum Eisenwarenladen und besorg eine Säge, ich will sehen ob ich von der Arbeit einen großen Karton besorgen kann.“
Einem ungeschriebenen Gesetz zur Folge, das wahrscheinlich den Regeln ihrer Natur entsprang, durfte kein Mensch der von einem Rakshasa getötet worden war verschwendet werden. Sie hatten keine Wahl, sie würden den Körper der törichten Frau mitnehmen müssen. Widerwillig setzten sie sich in Bewegung und trafen nach kurzer Zeit wieder mit den benötigten Sachen zusammen. Die Frau jedoch war nicht mehr da. „Verdammt!“ Tjelle war einem Wutanfall nahe, „Wo ist sie hin?“ „Ist doch egal“ grinste Femke erleichtert, Hauptsche ist dass wir sie nicht nach Hause schleppen müssen. Mit einem unguten Gefühl stimmte Tjelle zu. „Wir werden später noch einmal zurückkommen.“
Gespannt auf das Schauspiel das sich ihnen bieten würde hatte sich die ganze Familie um Großmutters Baum versammelt und sah amüsiert aber auch stolz dabei zu wie der kleine Tjalf mit Hilfe von Großmutters Trank seine erste kontrollierte magische Handlung durchfühte. Alles lief wie am Schnürchen und er schaffte es fehlerfrei alle Worte in die richtige Reihenfolge zu bringen.
Als somit der Lauf der Tage wieder hergestellt war und alle erleichtert von der abendlichen Kühle in ihre Schlafstätten fielen dachte keine der beiden mehr an die verschwundene Leiche der diebischen Person.
Nachdem Tjelle das Licht gelöscht und dem hektischen Tag den Rücken gekehrt hatte, nahm jedoch die Konsequenz ihres Handelns seinen Lauf. Schon Morgen in der Früh würde sie feststellen dass der scheidende Tag einer der ruhigsten ihres zukünftigen Lebens gewesen sein würde...