11.06.2008

Und wir werden warten - Man ist länger krank, wenn man zum Arzt geht

Wenn man krank ist, weiß man die Gesundheit zu würdigen. Kranksein heißt aber auch: Wartezimmer!
Und mich hat's erwischt, rausschieben nützt nichts, der Hals protestiert vehement beim Schlucken, was beim Essen niemals nicht gut sein kann. Grippe, na toll!
Ich komme an beim Arzt und denke mir: Hey, klasse, lauter freier Parkplätze! Beherzten Schwunges die Praxis betreten, steuert man vor lauter Euphorie in den Warteraum - und bleibt wie angenagelt stehen. Proppenvoll ist's, kaum etwas frei. Also gedanklich fluchend den Platz ausgewählt (sofern Frau eine Wahl hat) und hingesetzt.
Mein Sitznachbar sagt im Plauderton, wie toll die neuen Parkplätze doch sind. Witzbold! Ich schlage ihm vor, auf den linierten Asphalt Stühle und Tische zu tragen, damit alle Wartenden sich daran erfreuen können. Der wird mich nicht so schnell wieder ansprechen.
Ängstlich schaue ich mich um und zähle die Wartenden. Zwei, drei, vier, vierzehn, fünfzehn...! Ich sehe sie mir alle analytisch an, damit sich auch ja niemand dazwischen mogeln kann. Nicht, dass ich was Besseres zu tun hätte... Um mein Wartezimmer-Vormogel-Vermeidungssystem zu perfektionieren, stelle ich fast automatisch die obligatorische Wer-War-Der-Letzte-Frage.
Nach echoartigem "Der-Da-Nein-Sie-Dort-Nein-Ich-War's" fällt mir ein, dass ich vor lauter Euphorie (so viel dazu!) das Anmelden vergessen habe. Vorgestellt, angemeldet, nett gelächelt, drei Minuten weniger gelangweilt und zurückgehuscht, schon ist mein Platz besetzt und zwei neue sind da, wovon einer grad die Wer-War-Der-Letzte-Frage stellt.
Drei, vier, fünf Finger und Köpfe zeigen auf mich, aber ich schüttele den Kopf und weise auf die neu Hinzugekommene. Die stellt sich als Frau des Platzbesetzers heraus.
Peinlich berührt nehme ich wieder Platz, greife wahllos in den tausendfach begrabschten Klatschheftchen Stapel vor mir und wundere mich über das, was ich in Händen halte.
Da so etwas aber scheinbar den Seltenheitswert einer Mondfinsternis hat, schauen noch immer alle in meine Richtung, kommt ja nicht alle Tage vor, dass da jemand nach Zeitschriften greift. Und so öffne ich zu Tarnungszwecken die erste Seite, ja nicht umblättern, kein Geräusch machen, dann sehen sie schon noch weg, und DANN kann ich vielleicht einen zweiten Versuch wagen.
Nachdem ich endlich eine Zeitschrift habe, in der ein Artikel steht, den ich lesen könnte, werde ich aufgerufen. Endlich! Ich stehe freudestrahlend etwas zu hastig auf, tschüss Wartezimmer!
Ich hab' aber nur vergessen zu bezahlen. So schnell sah man noch keinen Zehner davon flattern. Sie hat den Beruf verfehlt, eindeutig, sie hätte Geldscheingrabscher werden sollen. Ich höre wie aus weiter Ferne, dass ich wieder Platz nehmen darf. Ich darf, nein wie freundlich! Grummelnd genervt steuere ich langsam wieder zurück, und wieder ist mein hart erkämpfter Platz futsch. Nichts ist mehr frei, also stelle ich mich möglichst unauffällig an die Wand. Schon mal versucht, unauffällig durch ein Wartezimmer voll mit guckenden, stillen, neugierigen Menschen zu gehen?
Als ich meinen Platz erreicht habe, weiß ich nicht recht, mich hinzustellen.
Wie steht man intelligent und unauffällig? Ich nehme mir ein Beispiel am Garderobenständer. Den schaut schließlich auch keiner an. Hoffentlich hängt nur keiner seine Jacke an mir auf, dann ist alles gut.
Ich schaue mich weiter um, ganz allmählich den Sonderstatus "Stehend" verlierend, und entdecke ein Kind. Das hat's gut. Spielt am Boden, alle schauen es an, keiner kümmert sich drum. Am wenigstens das Kind. Ich überlege, ob ich mitspielen soll, aber das hätte nur wieder neue Blickfluten zur Folge. Langsam kenne ich alle Augen-Paare hier...
Wieso gibt es eigentlich keine Spielzeuge für Erwachsene? Weil sie sich nicht langweilen und daher keines brauchen? Also ich bin sicher, dass niemand ernsthaft der Meinung sein kann, hier gerade Höhenflüge des Glücks zu haben.
Dann das Unvermeidliche - ich muss niesen! Ein erneutes Baden in fremden Blicken. Keiner sagt Gesundheit. Da es für jedwede Abwehrmaßnahmen zu spät war, brauche ich ein Taschentuch. Scheinbar hat das noch nie jemand hier getan, denn alle verfolgen mein Schniefen mit ungeheurem Interesse. Weltsensation! Eine Stehende, die sich die Nase putzt! Die Frau neben mir auf dem Stuhl rückt unauffällig zur Seite zum hustenden Mann. Ich sage ihr nicht, dass Hustenbazillen ansteckender sind als Taschentücher, hab genug von allem und wechsle fluchtartig auf einen Stuhl, als dieser frei wird.
Der Mann neben mir stößt mich an, nuschelt eine Entschuldigung. Ein Flüstern so laut wie Donnerschläge nicht hätten sein können, alle gucken. Er schaut weg.
Ich versinke in den Ewigkeiten meiner Gedanken, habe jetzt genug Zeit, wieder Angst zu haben. Danke, Wartezimmer. Hat schon mal jemand daran gedacht, dass man durch Wartezimmer erst recht krank werden kann? Mit Kopfweh hin, mit Grippe zurück, sodass man die Woche drauf noch mal zum Arzt darf und alle anderen ansteckt.
Ehe ich nach zwei, drei Stunden intensivsten Gedankenversinkens endlich aufgerufen werde, habe ich alles durch: Handy, Tarnlesen, Kalender mit sinnvollen Terminen wie "Einkaufen" füllen, Taschenwühlen, Starren, mit Accesoirs spielen, so tun als sei man Inventar.
Vielleicht erkennt mich beim nächsten Mal ja mein Freund, der Kleiderständer wieder.
Von Avelina Rimada Ruiz