19.01.2010

09/99 Andreas 09/08

 9.9.99 - Das Datum das sämtliche Verrückte in die Standesämter treibt, zieht an mir vorbei wie durch Watte. Surreal und unbeachtet. Die Tage wie ein Film, den man nicht umschalten kann, ein Zug der nicht anhält. Die Welt draußen ist unerreichbar, wie das Auftauchen aus einem spannenden Buch, ungeordnet, unbedeutend, wie durch Nebel. Sie dreht sich einfach als wäre alles normal.

Ich sitz mit meinen Dämonen auf deiner Couch und lass die Umgebung auf mich wirken. Meine Eigenproduktions-XXL-Geburtstagskarte steht noch auf dem Regal, die CD die ich dir dazu geschenkt hab ist noch im CD-Player, diese gruselige Musik, die ich nicht wirklich mit dir geteilt habe. Jetzt, neun Jahre später, flenn ich plötzlich los wenn sie irgendwo läuft.

Das Schluchzen deiner Mutter neben mir werde ich nie vergessen, dein Vater ist weiß wie eine Wand und dein Bruder ist ab heute ein Stück Treibholz das kein Ufer mehr findet. - Den Kontakt habe ich mittlerweile ganz abgebrochen, er ist ohne dich und deine Führung unerträglich geworden. - Diese haltlosen Tage haben mich dem Irrsinn wieder ein ganzes Stück näher gebracht. Während du verkabelt vor dich hin vegetierst und die Hirnströme jedem Realisten sagen dass es sowieso vorbei ist, spielen sich Sachen ab von denen ich froh bin dass du sie nicht sehen musst. Meine Verachtung für die Menschen, einige im Speziellen, hat hier viel Nahrung gefunden.

Froh irgendeine Ablenkung zu finden, mache ich mich mit deinem Bruder daran die Fahrzeugpapiere und Schlüssel deiner Kunden zu ordnen, die Aussicht auf die Anrufe deswegen dreht mir den Magen um. Dein Vater versinkt in Spekulationen und Theorien, die keinem etwas nützen. Er fragt mich immer und immer wieder nach allen Details zur Umgebung und ich verfluche dass ich hier die einzige bin die den Ort kennt. Sie verstricken sich in den Wirren, die nur Verzweifelte kennen. Geschürt von dem Arschloch, das sich profiliert und den besten Freund raushängen lässt, verrennen sie sich in Überlegungen, die nur dazu dienen nicht wahnsinnig zu werden. Es empört mich dass sie sich an diesen Wichser hängen, von dem sie eigentlich wissen dass du ihn schon so lange verachtest. Deine Vorgeschichte zählt plötzlich kaum und die Spekulationen lassen mich bloß den Kopf schütteln. Die Obduktion ist Makulatur.

Immer wieder glaube ich wahnsinnig zu werden, manchmal hoffe ich es. Mir fallen 1000 Dinge ein und ich wünsche mir du hättest an dem Abend, an dem uns die Dumpfbacke bei der Vollgasaktion im Lancia die Vorfahrt nahm, nicht gebremst. Ich wundere mich über mich selbst, kann mich nicht erinnern je im Leben soviel geheult zu haben.

Die Erde dreht und dreht sich und ich habe das Verlangen sämtliche Leute, die in ihr ihren gewohnten Dingen nachgehen, an den Schultern zu packen und sie kräftig durchzuschütteln. Ich möchte schreien und Ihnen deutlich machen dass die Welt wieder ein Stück an Ordnung verloren hat. Letzte Woche sah sie noch so verheißungsvoll aus. Meine Familie war fast mit mir im Einklang, du hast sie unbedeutend aussehen lassen. Warst du da war sie eingeschüchtert.
Ich weiß dass sie irgendwann über mich hergefallen wäre, aber du hättest sie sicherlich zurecht gewiesen. Ich neige zur Idealisierung, na und? Du hast sie dir verdient.

Es ist das Wetter das mir als erstes in alle Sinne kommt: Die drückende Schwüle zerrt zusammen mit dem Schlafmangel und den kreisenden Gedanken an der Substanz. Verzweiflung und Trauer, Hoffnung und Zuversicht sitzen auf einer Wippe die an meinem Rücken gebunden ist. Der Weg zum Krankenhaus in BO ist unendlich lang, im Auto ist es total warm, der Fahrtwind aber fühlt sich bei ausgestrecktem Arm kühl an. Ich bin zu warm angezogen. Im CD-Player läuft deine Musik. Plötzlich mag ich sie. Ich befinde mich in einer Blase, die mich vom Rest der funktionierenden Welt abgrenzt. Versuche immer wieder den Fuß aus diesem Karusell zu stellen, aber es zieht mich immer wieder mit. Nur die Gewissheit dass dieser Ausnahmezustand irgendwann nachlässt, hält mich bei Verstand. Ungeduldig wünsch ich mir einen Zeitraffer, der alles hinter mir lässt.
Jeder so warme Septembertag hat seit dem seine Wirkung gehabt, die Wärme ist eine andere als im Juli oder August, die Luft riecht anders, fühlt sich anders an. Mir wurde das in dieser einen Woche so bewusst, seitdem assoziiere ich es mit ihr. Mit dir. Mit der Vergänglichkeit. Ich kann mir nicht erklären warum es dieses Jahr so besonders allgegenwärtig ist. Wenn ich im warmen Wind die Augen schließe, bringt er sämtliche Empfindungen zurück.

Das Foto von Geralds Narbe hat mich wie ein Keulenschlag getroffen, bis auf die Zweite an deiner Schläfe sah sie fast genauso aus. Der gleiche Winkel, die gleiche Stelle. Die gleiche Haarfarbe. Du bist immer noch präsent. Ich wette du würdest dir darauf was einbilden.
Bei der ersten mail von Sabine über das was jetzt bei ihnen passiert ist, seh ich dich an den ganzen Apparaten liegen und hoffe von ganzem Herzen dass die Sache anders ausgeht.
Dein Gesicht sieht nicht friedlich aus, nicht entspannt. Als deine Hirnströme sich endgültig verabschieden, habe ich schon längst keinen anderen Ausgang mehr erwartet. Aber diese Endgültigkeit haut mich trotzdem regelrecht aus den Socken. Aber es ist vorbei. Dieser unerträgliche Schwebezustand, der doch bloß zwischen Tod und Dahinsiechen entschieden hat, ist beendet. Gedankenstrudel wirbeln stundenlang durch alle Köpfe. Hätte man das verhindern können? Warst du zu leichtfertig? Hast du Kontrollen versäumt? Für einen Augenblick lass ich mich mitreißen und verfalle in die "was-wäre-gewesen-wenn"-Unart, die Menschen nach besonderen Ereignissen heimsucht, wo Sekunden über Schicksale entscheiden.
Doch im Gegensatz zum Rest aller Betroffenen, die noch wochenlang alles hin und her schieben, ja sogar unfassbare Beschuldigungen aussprechen, ist mir schnell klar:
Es ist wie es ist, friss es oder verrecke...