16.06.2008

Begegnung bei Nacht

Eisige Nacht herrschte, als sie durch die verlassenen Straßen der Stadt lief.
Die Arme fest um den Körper geschlungen und den Kopf gesenkt irrte sie ziellos umher.
Sie zog den Kragen ihres Parkers soweit es ging über die Ohren und vergrub ihr Kinn darin. Die
Kapuze des dünnen Pullovers schlug jedes Mal vom heftigen Wind erfasst wieder zurück und sie
versuchte, sie tiefer ins Gesicht zu ziehen. Ein verzweifelter Versuch, sich vor der beißenden Kälte zu schützen.
Der Wind heulte gespenstisch und raschelte stürmisch in den Baumwipfeln, die bedrohlich
schwankten und unheimliche Schatten warfen.

Sie hauchte abermals in ihre Hände, doch der heiße Atem genügte kaum, das taube Gefühl in ihren Fingern zu vertreiben. Der eisige Wind schien bis in ihren Kopf einzudringen und sie versuchte den Nebel, der sich um ihre Gedanken legte, zu vertreiben, gegen die lähmende Umarmung der Kälte anzukämpfen.
Fest rieb sie die Hände aneinander, so fest, dass es hätte wehtun müssen, doch Schmerz spürte sie schon lange nicht mehr, nicht mehr körperlich. Nur tief in ihr nagte er an ihrer Seele, ihrem Geist.

Als sie an einer Kirche vorbeikam, sah sie eine gebeugte Gestalt, die auf den Stufen saß. Sie
blinzelte in die Dunkelheit und erkannte einen Mann mit grau meliertem Haar und zerschlissenem Mantel, er war älter als sie, doch wie alt vermochte sie nicht zu schätzen.

Dann sah er auf und obwohl sie sein Gesicht nun deutlich sehen konnte, konnte sie seine Augen
nicht erkennen. Es war, als lägen immer alle Schatten auf ihnen, egal wohin er blickte. Für einen
winzigen Moment glaube sie, dass seine Augen alles Licht in sich aufsaugen würden, vergaß diesen Gedanken aber sofort wieder. Zurück blieb ein Gefühl, das sie irgendwo ganz tief drinnen bis aufs Mark berührte.

"Komm her", sagte er plötzlich mit alter Stimme, "es wird gleich regnen."
Überrascht blickte sie in den Himmel. Jeden Stern hätte man sehen können, kein Wölkchen
bedeckte den Mond.

"Ich denke nicht, dass..." noch ehe sie ihren Satz beenden konnte, fiel ein erster Tropfen mitten auf ihre Nase und ließ sie verstummen.
Verblüfft sah sie wieder zu dem Mann. Sein Gesicht war von Hunger und Elend gezeichnet, dunkle Ringe lagen unter den noch immer nicht erkennbaren Augen, er hatte einen typischen Drei-Tage- Bart und lächelte müde. Und doch lag eine Schönheit in ihm, die sie nicht beschreiben konnte. Seine Züge wirkten auf eine unbeschreibliche Weise edel und weise, sie war sich sicher, dass er nicht immer auf der Straße gelebt hatte.

Der mittlerweile heftiger werdende Regen prasselte beharrlich auf sie nieder, während sie noch
immer ihren Gedanken nachhing.
"Na los, komm schon", die Stimme riss sie aus ihrer Trance, "ich tu' dir nichts!"
Sie schüttelte eilig den Kopf, atmete einmal tief durch und sah einen Moment lang zögernd auf
ihren kondensierten Atem. Dann lief sie schnell zu den Stufen und nahm neben dem Mann Platz.
Und plötzlich schämte sie sich. Sie, die es ihr eigentlich an nichts zum Leben mangelte, saß hier,
neben einem Obdachlosen. Sie hatte kein Recht dazu, fand sie, ihr ging es nicht halb so schlecht wie ihm. Und doch...

"Mach' dir keine Sorgen“, er lächelte gütig, "jeder braucht ein bisschen Schutz an solchen Tagen."
Hatte er ihre Gedanken gelesen? Sie wusste es nicht, nickte nur.
An solchen Tagen, hatte er gesagt. Ja... gestern noch war alles anders gewesen.
Sie dachte daran, wie sie müde nach der Beerdigung ins Bett gegangen war. Etwas weiches, warmes hatte sich an sie ihre Beine gedrückt und sich dann neben sie gelegt. Ihr Kater, Flash Gordon, benannt nach einem alten Comic-Helden, funkelte sie aus smaragdgrünen Augen an, bevor er sie in den Schlaf schnurrte.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, war ihr schwarz-weiß getigerter Freund bereits fort.
Sie ging in die Küche und als ihr Blick auf die Fliesen fiel, schlug sie die Hand vor den Mund und
taumelte schockiert gegen den Türrahmen. Ihr wurde schlecht.
Mit klopfendem Herzen starrte sie auf Flash Gordon, der inmitten der Küche lag, sein Körper
merkwürdig verdreht. Die Pfoten lagen verrenkt halb unter seinem Körper, das Genick war
gebrochen und unnatürlich weit nach hinten gebogen. Der Kater stierte ihr aus aufgerissenen Augen entgegen. Er war tot, vermutlich unglücklich vom Schrank oder dem Tisch gefallen.

Der Anblick der toten Katze ließ sie würgen, Tränen schossen ihr in die Augen. Nicht auch noch er, dabei war er doch ihr einziger Trost. Das war zu viel, viel zu viel. Sie presste die Hand fester auf den Mund und rannte aus dem Haus.
Sie hatte nicht bemerkt, wie viel Zeit seither vergangen war, dass sie einen ganzen Tag über einfach so durch die Gegend lief.

Als sie sich nun umsah, stellte sie fest, dass sie gar nicht richtig wusste, wo genau sie sich befand.
Neben irgendeinem Fremden, und wer weiß, er konnte sogar gefährlich sein. Aber würde sich
jemand mit bösen Absichten ausgerechnet Schutz bei einer Kirche suchen?

"Wunderschön..."
Sie sah zur Seite und blickte ihn fragend an. Er deutete mit dem Kinn in Richtung eines
Rosenstrauchs. Sie folgte seinem Blick und entdeckte lauter Knospen und Blüten von Pfingstrosen,
auf die der Regen trommelte.
"Aber was soll schön daran sein, der Regen wird sie zerstören...", warf sie ein.
Doch der Mann schüttelte den Kopf. „Manchmal scheinen die Dinge nur auf den ersten Blick
zerstört.“
"Ich verstehe nicht..." "Schau genau hin!" Sie tat wie ihr geheißen und betrachtete die Rosen
genauer. Da! Jetzt sah sie es, der Regen zerstörte nicht die Blüten, vielmehr brachte er sie dazu, sich zu schließen. "Manchmal muss man das Leben verstecken, um es zu schützen."
"Aber manchmal kann man es nicht schützen..." meinte sie leise, "und dann kann man sich auch
nicht mehr beschützen lassen."

Sie schwiegen eine Weile, dann vernahm sie das Rascheln seines Mantels, als er sich vorbeugte, um eine Blüte abzupflücken. Dabei fiel etwas aus seiner Manteltasche, was er augenscheinlich nicht bemerkte. Es war ein zerfetztes und abgenutztes kleinen Notizbuch.
Nachdenklich ließ er sich zurücksinken und drehte die Blüte zwischen seinen behandschuhten
Fingern.

Sie zögerte kurz, rutsche dann ein winziges Stück vor und hob das Buch auf. Sie warf einen Blick
zur Seite, doch es machte ihm offensichtlich nichts aus. Die Seiten waren vergilbt und teilweise
zerfetzt. Doch was sie am meisten verwunderte, war die Tatsache, dass es vollkommen leer war.
Zeitungsausschnitte lagen lose zwischen den Seiten. Sie nahm einen davon und versuchte zu
entziffern, was die Zeit hatte verblassen lassen. Als sie das Foto sah, weitete sie verblüfft die
Augen.
"Frecce Tricolori !" stieß sie überrascht aus. Die Kunstfliegerstaffel war auf dem Bild abgedruckt, in bunten Farben flogen die Piloten ihre Runden. Es war der Tag, an dem das Unglück passierte, der Tag, der so viele Leben forderte...

"Wieso trägst du das bei dir?" fragte sie unvermittelt. "Ich war dort", antwortete er knapp.
Sie öffnete überrascht den Mund. "An dem Tag? Ich meine, als das hier..." sie deutete auf den
Zeitungsausschnitt und blickte ihn dann an. Seine Miene war unverändert.
"Warst du unter den Zuschauern?" Er schwieg weiter.

"Tut mir leid, ich wollte nicht..." "Es ist in Ordnung." Er räusperte sich.
"Ja, an dem Tag war ich dort. Ich war dabei." "Oh mein Gott...", sie schluckte schwer, "das muss
schrecklich gewesen sein."
Er zuckte mit den Schultern. "Nun, eigentlich war es sehr alltäglich."
"Was?!" Sie wich instinktiv zurück und sah den Mann entsetzt an.
"Der Tod ist allgegenwärtig", fuhr der alte Mann fort, "daran ist nichts Schreckliches."
"Wie kannst du so etwas sagen!" Entrüstet warf sie ihm das kleine Buch in die Arme. "Du hast nicht das Recht, das zu sagen! Der Tod ist grausam, er ist unmenschlich, einfach nur unfair und
zerstörerisch."
Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde und ihre Augen brannten. "Er hat mir so viel genommen, wie kann das nicht schrecklich sein?"
"Du hast jemanden verloren", antwortete er ruhig, "es ist nicht lange her. Aus deinen Worten spricht tiefe Trauer und Zorn, das ist normal."
"Gar nichts ist normal!", schrie sie ihn an, verzweifelt gegen die Tränen ankämpfend, "Was weißt
du schon! Ja, ich bin traurig, und ja, wütend bin ich auch. Sehr wütend. Ich habe meinen Bruder
verloren, und dann auch noch den einzigen Freund, der mir Trost spenden konnte."

Ihre Stimme brach, sie konnte nicht mehr reden. Wehmütig dachte sie an den Morgen zurück. Nie wieder würde sie ihr Gesicht in dem weichen Fell der Katze verbergen, nie wieder das Lachen ihres Bruders hören.
Sie schluchzte.

"Tod ist nicht das Gegenteil von Leben", meinte der Mann plötzlich. Sie verstummte und sah ihn
aus tränenüberströmtem Gesicht an.
Dann fuhr er fort: "Das Gegenteil von Tod ist Geburt. Das Leben ist nur der Schritt dazwischen, der
Weg, dessen Abbiegung der Tod ist."
"Du meinst, der Tod ist sein Ende", warf sie bitter ein.
"Nein."
Die Ruhe, mit der er sprach, machte sie schier wahnsinnig.
Armer, alter Mann... wie lange mochte er wohl schon hier leben? Er war verwirrt, das musste es
sein.

"Das Leben endet nicht mit dem Tod, es ist nur ein weiterer Schritt auf der Reise." Als er daraufhin nur eine stumme Frage erntete, setzte er sich aufrecht hin und sah gerade aus.
"Der Tod ist wie das Universum", begann er, "es ist unendlich groß, unerforscht und fremd. Und
weil es so fremd ist, wirkt es auf die meisten bedrohlich.
Nehmen wir einmal die schwarzen Löcher. Die Menschen wissen, dass es im Universum
massenhaft dieser Phänomene gibt. Doch nur, weil sie gefährlich sind, muss das nicht heißen, dass es nicht auch andere Dinge gibt.
Wie viel weißt du über schwarze Löcher?"

Die Frage kam so unvorbereitet, dass sie einen Moment brauchte, um eine Antwort zu formulieren.
"Nun, nicht viel." Sie trippelte mit ihrem Fuß auf der Treppe auf und ab. "Sie verschlingen Licht."
"Ja, das tun sie. So, wie der Tod Leben verschlingt, nicht wahr?"
Sie wandte den Kopf und er fuhr fort: "Doch hast du mal darüber nachgedacht, wo das Licht landet?
Es ist nicht plötzlich weg. Niemand kann sagen, wieweit der Ereignishorizont eines schwarzen
Loches reicht, wohin er greift. Denn niemand kann es ausprobieren und anschließend davon
berichten.
Und nicht anders ist es mit dem Tod."

Sie dachte über diese Worte nach und plötzlich waren ihre Gedanken auf merkwürdige Weise klar,
gestochen scharf konnte sie die Wahrheit erkennen, die einzig richtige, das große Ganze. Es war nur ein winziger Augenblick, weniger als ein Herzschlag lang, da war es zum Greifen nahe. Doch je mehr sie sich bemühte, den Gedanken festzuhalten, um so mehr entglitt er ihr. Zurück blieb nur tiefe Leere.
Als sie den Mann erneut ansah, hatte sich etwas verändert. Sie wusste nicht genau, was es war, doch es war nicht der selbe, alte, gebrechliche Mann wie noch Augenblicke zuvor.
Er wirkte plötzlich jünger, kraftvoller. Die Stimme, mit der er eben gesprochen hatte, wirkte nicht mehr brüchig, rau und dünn. Viel eher dunkler, tiefer und auf eine gewisse Weise auch irgendwie geheimnisvoll.
Sie erschauderte, Gänsehaut kroch ihr über den Rücken. War es eben schon so kalt gewesen?

"Deine Worte klingen so... wahr." Sie war selbst überrascht über das, was sie sagte.
"Ich möchte dir gern glauben, dass es irgendwie weiter geht. Doch es tut so weh..."
"Ja, das weiß ich. Und es wird immer weh tun.
Doch es wird sein wie eine Wunde. Zunächst wird es schmerzhaft sein, mit der Zeit wird sie
verheilen und schließlich bleibt eine Narbe. Sie schmerzt noch, wenn man sie berührt, aber man
kann damit umgehen.
Es wird leichter, ich verspreche es dir."
Sie lächelte traurig. "Du kennst dich wohl aus, was?"
"Ich habe lange Erfahrung", antwortete er nur. Dann bedachte er sie mit einem merkwürdigen Blick.
"Du sollst es leichter haben, mir zu glauben."

Sie zog die Knie an und zupfte nervös am Saum ihres Parkers.
"Achja, und wie?" wollte sie wissen.
"Ich mache dir ein Geschenk. Es ist die absolute Ausnahme, doch du sollst wissen, dass der Tod
nicht der Böse ist. Eigentlich bist du gar nicht auf ihn wütend, sondern auf dich selbst. Auf alles und auf nichts."
Sie wusste, dass er Recht hatte.
"Du sprichst von dem Tod wie von einer Person, einem alten Freund..."
Der Mann lächelte geheimnisvoll und zum ersten Mal konnte sie seine Augen sehen. Sie waren
unendlich wie das Universum, tief schwarze Dunkelheit war in ihnen und doch waren sie so bunt
und schillernd als spiegele sich das Polarlicht selbst darin wider.

Die Kälte, die sie empfand, schien von dem Mann auszugehen, und obwohl sie fröstelte, verschaffte
es ihr angenehme Klarheit.
Jedenfalls wenn man von den Streichen absah, die ihre Augen ihr spielten. Wie lange hatte sie nicht mehr geschlafen?
Der Mann wirkte blasser, fast, als wäre er gar nicht richtig hier. Sie musste wirklich sehr erschöpft sein.
Sie schloss müde die Augen und ließ den Wind über ihr Gesicht streichen. Als sie die Augen wieder öffnete, war der Mann verschwunden.

Tief durchatmend stand sie auf.
Als sich etwas Warmes, Weiches an ihre Beine drückte, lächelte sie zufrieden. Sie sah hinab und
blickte in die funkelnden smaragdgrünen Augen ihres getigerten Freundes.
Sie nahm den Kater auf den Arm und drückte ihr Gesicht in sein Fell. Ein kostbares Geschenk, das er ihr gemacht hatte, und sie dankte ihm dafür.

Was für eine seltsame Nacht, dachte sie, während sie mit ihrem Freund nach Hause ging.
Es bestand kein Zweifel, und zu ihrer größten Verwunderung schien es sie gar nicht zu beunruhigen, welch mysteriöse Begegnung sie hinter sich hatte.
Sie hatte sich gerade mit dem Tod unterhalten...

Avelina Rimada Ruiz

Mit fremden Augen

Was da oben vorging war uns eigentlich immer egal, wir sahen nur gelegentlich die Ergebnisse und versuchten ihnen aus dem Weg zu gehen. Bei der Größe des Ozeans kein schwieriges Unterfangen, vor allem seit die ganzen Jäger sich mit uns geeignet hatten nur das nötigste zu tun um selber zu überleben. Zumindest solange da oben die Geschehnisse tobten. Alles zog sich in Summe über knapp 20 Jahre, und danach wurde es so ruhig dass wir danach an Land gingen um nach dem Rechten zu sehen. Wir blieben dann gleich dort, denn es war niemand mehr da um uns das Gebiet streitig zu machen. Die ganzen ach so intelligenten Säuger auf zwei Beinen, die Maschinen benutzten und die Welt nach ihrem Willen umformten, waren verschwunden. Nur mehr ihre zerstörten Behausungen waren ein Zeugnis ihres Seins.

Als Delphin lebt es sich einfach. Den meisten Meeresbewohnern ist man an Intellekt überlegen, was aber keinesfalls ein Ersatz für Größe oder ein paar Reihen scharfer Zähne sind. Und natürlich sind nicht alle vor Zähnen starrende Monster dumm. Haie, zum Beispiel, können ganz gewieft sein wenn sie wollen. Aber meistens beschränken sie sich auf zwei Dinge: schwimmen und fressen.
Da sind die Wale schon besser. Ihre Gesänge reichen weit und dienen zum Informationsaustausch. Wie Tratschweiber, deren Tisch der Ozean ist. Ihre Lieder sind vergleichbar mit dem, was die Menschen klassische Musik nannten. Klassisch im Sinne dass es nie aus der Mode kam.
Je tiefer man kommt, desto verschiedener sind die Lebewesen, die man antrifft. Sie werden immer weicher und oft kleiner. Erst ganz unten, wo es wieder warm wird, gibt es Monster, die noch größer sind als die Wale oder Haie. Es sind Haie, aus grauer Vorzeit, gefangen zwischen der Wärme des Erdbodens und der Kälte der Ozeane. Doch würden sie nach oben kommen, bei meinen Flossen, wir wären nur ein Buffet für sie.

Ich will aber nicht mehr über meine Nachbarn lästern.
Eigentlich will ich über die Menschen berichten, die alles hier oben als total selbstverständlich ansahen. Sie ebneten Berge ein oder schufen neue, je nachdem. Wir sind nicht dazu fähig, und haben es auch nicht nötig, will ich mal betonen. Die Meere geben uns alles was wir brauchen, also wozu was ändern.
An Land ist es, zumindest seit wir hier sind, auch nicht anders. Wir mussten nicht Berge erschaffen, unsere Bedürfnisse sind jedoch anders. Zum Fressen gehen wir noch immer zurück in die Heimat, das Wasser. Aber an Land ist es sicherer, keine Jäger, die aus Spaß töten. Keine Rabauken, die dich nur aus Spaß jagen und töten, wie die Orcas, die jetzt wieder zahlreich die Meere unsicher machen. Wie die Wölfe, die sich an Land nur langsam und vorsichtig an uns heranwagten und nach einem kurzen Gespräch wieder respektvollen Abstand einhielten.

Die Menschen waren, wie wir von den Wölfen erfahren haben, anders. Sie waren nie zufrieden, und beneideten sich gegenseitig.
Wir verfolgten ihr Handeln so gut es ging aus sicherer Entfernung, manchmal wagten wir uns auch näher ran und warnten sie. Doch die Menschen, in ihrer Arroganz, sahen unsere Gesten als Versuch mit ihnen zu spielen.
So kam es wie es kommen musste. Irgendwann sahen wir viele Schiffe auslaufen und Maschinen durch die Luft fliegen. Andere rollten in Küstennähe vorbei ins Landesinnere.
Da schrillten bei uns schon alle Alarmglocken und wir begannen die anderen zu warnen. Die Wale nahmen unsere Warnungen sofort ernst und verbreiteten sie mit ihren Gesängen. Die Haie brauchten länger, und haben sogar ein paar unserer Boten gefressen.
Wir Delphine waren sozusagen das Streichholz, das das Feuer entzündet hat.
Dann begann das Sinken. Immer mehr der Schiffe kamen als riesige Geschosse nach unten, total verfetzt und zerschossen. Einige von uns im Wasser konnten den Trümmern nicht ausweichen und wurden verletzt, viele sogar erschlagen.
Andere Schiffe, die wie wir unter Wasser dahin zogen, waren die schlimmsten. Sie schossen lange Dinge ab, die manchmal auch uns trafen. Und diese Geräte, die sie benutzten um sich zu finden, sie schmerzen in unseren Ohren und trieben uns beinahe zum Wahnsinn.
Wir zogen uns so tief zurück wie wir konnten, doch Wale und Delphine mussten ja immer wieder hinauf zum Atmen.
Da kamen uns zum Glück die Riesenkraken zu Hilfe und schlugen riesige Höhlen in die Felsen, in die sie Luftblasen setzten. Einige von uns konnten so gerettet werden, andere blieben wie ich unbelehrbar und stiegen immer wieder auf. Wieder andere erstickten einfach.
Ich, zu meinem Teil, ging eigentlich nur wieder hinauf um zu sehen was da vorging. Die Flugmaschinen wurden immer weniger, die Schiffe auch. An Land traute ich mich bald nicht mehr, weil es dort noch schlimmer war wie auf See.
Dazu kam die dauernde Hitze. Die Wasser brodelten oft und waren manchmal so heiß dass nur die Tiefe der Meere Linderung schenken konnten.
Schließlich endete alles, von einem Tag auf den anderen. Alles war weg. Alle Schiffe, als Flugmaschinen, alle Landmaschinen. Riesige Landstriche waren abgebrochen und ins Meer gestürzt.
Wir, die Gelehrten der Meere, konnten mit den Puzzlestücken, die dadurch ins Meer gespült wurden, bald etwas anfangen. Wir benutzten Landkarten, Schriften und schließlich sogar einige Geräte um alle aufzuklären.
Die Menschen hatten sich kurz gesagt selber verschlungen. Um Gebiete war es gegangen, Ressourcen und natürlich die Macht. Die Menschen waren Barbaren, die mächtige Waffen haben. Mehr als Zähne, Flossen und Fangarme. Mit diesen Waffen stürzten sie sich in den Untergang.
Sie verdammen die Übeltäter wohl selber. Obwohl, eher nicht. Es ist ja niemand mehr übrig, der verdammt werden kann. Und noch weniger jemand, der verdammen könnte. Kein Mensch ist übrig, alle sind dahin gegangen. Verbrannt, ertrunken, erschossen, verstrahlt.

Genau das ist das Problem.
Die Welt, ein Grün und freundlich, ist nur noch ein Land aus Glut, Flammen mit Aschenregen. Kein Land, in dem man gerne verweilt. Aber die Wasser sind vergiftet und verstrahlt. Alles stirbt, in allen Tiefen, an allen Orten.
Die Erde ist ein wüstes Feuerland, bald ohne Leben. Bald werden nur noch die Lavaströme und das Gift seine Kreise ziehen.
Ob an Land oder im Wasser, überleben werden wir nicht lange. Viele sind schon gestorben, noch viel mehr haben sich selber das Leben genommen.
Schrecklich ist was geblieben ist. Die Flossen voller Schwielen, die Augen eitrig. Der Kopf schmerzt und der Atem brennt schlimmer wie der heiße Boden.

Meine Zeit ist knapp, wie gesagt schmerzt alles.
Ich werde den einfachsten Weg wählen. Den Weg, den auch die meisten verbliebenen Landbewohner wählen. Die Ratten bringen aus den Ruinen der Städte Pulver, in riesigen Menschen. Sie nennen es Rattengift, und sagen dass es verwendet wurde um sie zu töten.
Es soll ein einfacher Tod sein, im Verhältnis zu dem, was denen widerfährt, die gar nichts tun. Die in Krämpfen durch das Meer treiben, mit den Flossen schlagen und schrill kreischen bevor ihre Stimme versagt und sie schwer zum Grund sinken, zu den unzähligen anderen, die vor ihnen starben.

So, leb wohl, du einst schöne Welt. Du warst eine wunderbare Perle in der Größe des Ganzen.
Nun bist du ein schwarzer Schandfleck im Nichts, entstanden durch die Arroganz der sogenannten Zivilisation.
Ich spüre wie das Gift langsam wirkt. Es schmerzt, jedoch nicht so sehr wie es sein muss in den Krämpfen zu gehen.
Ich habe die Welt gesehen, mit meinen und mit fremden Augen. Ich hoffe irgendwann kann das wieder jemand tun. Wenn sich dieser Ort erholt hat und wieder Leben einkehrt. Irgendwann...

Nicolai Rosemann

15.06.2008

21 Tipps, wie man ein richtiger Mann wird

  1. Sag nie „nein“ zu Sex! Quantität ist gleich Qualität.
  2. Vergiss alles, was die Ärzte sagen. Impotenz ist ein Tabu!
  3. Ruf nie als Erster an!
  4. Gib deinem Penis einen Namen!
  5. Sei von Zeit zu Zeit etwas schwierig!
  6. Denk daran, dass Männer mit vielen Freundinnen nicht unattraktiv sind.
  7. Frag nie um Rat, wenn dein Auto kaputt ist. Das ist ein Zeichen der Schwäche. Geh lieber gleich in die Werkstatt!
  8. Ignorieren ist manchmal eine gute Einleitung für einen Flirt.
  9. Denk daran, dass Männer auf die Straße spucken.
  10. Zieh nie etwas an, was zum Outfit deiner Freundin passt.
  11. So beendet man als richtiger Mann eine Beziehung: „Es liegt nicht an dir, es liegt an mir.“
  12. Übertreib immer ein wenig, wenn du über Sex sprichst.
  13. Das Leben ist ein Wettbewerb, es geht darum, überall der Beste zu sein.
  14. Denk daran, dass alles, was gesagt wird, sexuell ausgelegt werden kann.
  15. Denk daran, dass wirklich viele Gegenstände an etwas Sexuelles erinnern.
  16. Sag nie „nein“ zu Freibier!
  17. Das Wort „Liebe“ gibt es nicht in deinem Wortschatz.
  18. Sage es dir immer wieder: Du bist ein guter Liebhaber, weil du immer zum Orgasmus kommst.
  19. Spiel mit dem Essen!
  20. Mach viel Fitness und Bodybuilding – tu aber so, als würdest du von Natur aus so aussehen.
  21. Denk an Bier, denk an Fußball!

14.06.2008

2377

Ein penetrantes Wecksignal reißt mich aus dem dumpfen Schweben zwischen Wachsein und Schlafen. Surrend öffnet sich die Stasiskapsel während die Nährlösung noch gurgelnd abläuft. Ein kurzer, eisig kalter Luftsog bläst die letzte dünne Schleimschicht von meinem Körper und trocknet dabei auch meine Unterwäsche.
Gähnend richte ich mich auf und erblicke das Ziel meiner Reise als großer, grauer Klotz, der bereits fast den gesamten Bildschirm der Fähre ausfüllt.
Auf dem Computerdisplay erscheint die geschätzte Ankunftszeit. 23:12:09. Also noch knapp eine Viertel Stunde bis zu den manuellen Andockmanövern. Nicht genug Zeit für ein Frühstück, aber noch schnell unter die Dusche. Die Nährlösung stinkt bereits wie vergammelter Fisch.
Neben mir wachen nun die anderen auf. Kopilot, Navigator und Techniker. Wir müssen alle wach sein zur Übergabe.
Wobei wir nicht wissen was da unten eigentlich in diesen Containern ist. Vor sechs Monaten haben wir das Zeug gebunkert und uns dann auf die lange, schwierige und gefährliche Reise gemacht. Die Reise zum Mars, einst der rote Planet. Jetzt grau vor schwerem Nebel und Regenwolken, hoffentlich bald grün vor Vegetation.
"Statusbericht?"
"Raumpiraten haben versucht sich anzuhängen. Bruder hat sie abgeschossen bevor sie nah genug waren. Keine Überlebenden", antwortet der Navigator.
"Der Ankauf der alten Laser hat sich also gelohnt", gab der Techniker seinen Senf dazu. Ein kleiner, korpulenter Typ der immer überlegen musste welchen Schraubenzieher er jetzt verwenden musste. Aber gutes Personal ist teuer, und an Geld mangelt es fast allen. So gebe ich mich mit der zweiten Wahl zufrieden und hoffe, dass bald die Kasse klingelt.

Manuelles Andocken an der Pathfinder-Station. Jedes Andocken ist eine Gratwanderung, die die absolute Aufmerksamkeit der Besatzung und ein gut koordiniertes Team benötigt. Der kleinste Fehler kann ein Inferno auslösen, der das Schiff verschlingt. Technologie wie zu Opas Zeit.
Wir sind jetzt im Stande Planeten zu terraformen, sodass sie erdähnlich werden. Doch hier haben wir wohl versagt, oder kein Geld übrig gehabt.
Doch wir überleben das Andocken und gehen nun in den Laderaum um das Umladen vorzubereiten. Dafür müssen wir die Container öffnen und sehen zum ersten Mal was so wichtig ist, dass unsere nicht gerade billige Firma angeheuert wurde.
Ich staune nicht schlecht als ich es sehe. Tannenbäume. Mehr als einhundertfünfzig einfache Tannenbäume wie es sie auf der Erde zu Tausenden gibt.
Die Crew gibt ihre Kommentare, doch bevor eine Diskussion beginnen kann erscheint der Chefverlader der Pathfinder-Station und macht uns Dampf. Er erinnert mich an unseren Techniker und scheint denselben IQ zu haben. Ob die beiden verwandt sind?

Außer den Kolonisten und der Operationsleitung ist es niemandem gestattet Fuß auf den Mars zu setzen. Noch nicht, um das noch schwache ökologische Gleichgewicht nicht zu stören.
Ist mir ehrlich egal, mein Konto ist wieder voll, die Passage samt Zinsen reicht bis zu meiner Rückkehr auf die Erde aus um dann ein paar dringend benötigte Ersatzteile zu kaufen. Vorausgesetzt meine Frau stellt nicht sofort alles auf den Kopf.
Meine Frau. Wieder ein Jahr gealtert bis ich zurückkomme. Ein negativer Effekt der langen Reise ist der Zeitunterschied. Wir sollten beide mittlerweile um die vierzig sein. Sie ist es auch, ich bin knapp 26. Den Rest verbrachte ich in Stasis auf Reisen zum Mars, zur Venus oder nach Europa. Europa, das erste erfolgreiche Terraformingprojekt. Bis es abgebrannt ist. Eine lustige Geschichte, und da wir Zeit haben will ich sie erzählen. Zeit zum Abdocken: 01:30:23.
Europa war nicht der erste Versuch einen Planeten bewohnbar zu machen. Projekte von Resort&Life sowie FutureLands liefen bereits als die bis dato unbekannte kleine Firma NewTerra eines religiösen Fundamentalisten den Auftrag bekam Europa urbar zu machen. Seltsamerweise war er erfolgreicher als die anderen Firmen, was wohl auf die bereits vorherrschenden Bedingungen zurückzuführen war. Schon im späten 20. Jahrhundert vermuteten Wissenschaftler, dass Europa sehr erdähnlich sein könnte.
Immerhin brauchte NewTerra knapp fünf Monate um den Planeten mit Flora und Fauna sowie einer Atembahren Atmosphäre auszustatten. Als die Terraformprozesse beendet waren, sollten Kolonisten in das neue Paradies weit, weit weg entsandt werden. So brachen sie auch auf, doch 24 Monate später fanden sie eine rote Hölle vor. NewTerra hatte wohl an Material gespart und so hatte ein Atmosphärenumwandler eben diese Atmosphäre entzündet und alles verbrannt. Die Kolonisten kehrten schlecht gelaunt an einem 24. Dezember zurück und ließen sich im Asteroidengürtel nieder. Seitdem treiben sie als Raumpiraten ihr Unwesen. Besser bekannt als Nicolaus und seine Erzengel. Das hat man davon wenn man Fanatiker wegschickt.
00:49:13.
Noch immer viel Zeit. Was kann ich sonst erzählen?
Mein erstes Weihnachten im Weltall erlebte ich mit 13. Meine Eltern konnten es sich endlich leisten auf den Mond umzusiedeln und die damalige Müllkippe Erde zu verlassen. Rückblickend wohl eine schlechte Entscheidung. Ein Jahr später erließ der Senat ein Reinheitsgesetz. Als Ergebnis sattelten alle großen Unternehmen um und zogen auf den Mond. Die Erde kam innerhalb weniger Jahre wieder auf einen wahrlich grünen Zweig und wurde wieder zur Perle im Sonnensystem. Blaue Ozeane, grüne Wiesen, Dschungel und Berge. Ein Urlaubsort für jedermann.
Der Mond wieder wurde trotz des Fehlens natürlicher Rohstoffe zu einer Müllkippe bis ein japanisches Konsortium auf die Idee kam ihn auszuhöhlen und den Fels zu verkaufen. Der Mond kollabierte. Die größte Katastrophe des Jahrhunderts.
Aber als ich auf den Mond kam war es noch schön. Grüne Baumplantagen unter gigantischen Glaskuppeln, dazwischen kleine, saubere Wohnanlagen aus Mondgestein. Geschäfte, Schulen, Bibliotheken, Museen und Denkmäler. Meine Eltern sprachen von der netten kleinen Siedlung im Vorort.
Ich konnte damit nichts anfangen. Ich war in Westtown, der Großstadt auf dem Kontinent Europa aufgewachsen. Ich kannte nur die Gassen rund um den Stadtteil Schweiz, die Expressbahnen nach Deutschland und Frankreich, wo ich zur Schule gegangen war, und die Expressbahn in den Stadtteil Finnland weil dort der Badesee und die Erholungsanlagen waren. Von all dem anderen habe ich nicht viel gesehen, wobei es von wunderschön bis abstoßend schrecklich ja alles geben soll. Keine Ahnung, aus dem Weltall wirkt Westtown wie ein kleiner Fleck im Nichts im Verhältnis zu Easttown, das sich über Asien und Nordafrika bis zu der Grenze der Wüste erstreckt. Am eindruckvollsten von oben ist aber Centraltown. Der gesamte amerikanische Kontinent ist davon eingenommen, die Anlagen reichen aber weit in den Pazifik hinunter und die Expresslinien nach East- und Westtown verlaufen wie schmale Adern über den Ozean.
So war diese kleine urbare Gegend auf dem Mond die sich schlicht und einfach Mondbasis 1 nannte für mich eine ganz neue Erfahrung. Ein Weihnachten, das nicht durch die Geschenke in meiner Erinnerung blieb, sondern vielmehr durch das ganze Drumherum.
In der Hauptmensa von Mondbasis 1 war ein Plastikbaum aufgestellt, der bis unter die Glaskuppel reichte weil es einfach sinnlose Verschwendung gewesen wäre ein Objekt auf der Baumfarm zu entfernen. Im Schatten dieses Baumes standen Tische und Bänke für alle Bewohner der Anlage, was in Summe keine 300 Leute umfasste.
00:20:00.
Startvorbereitungen einleiten. Einen Moment bitte.
"Alle Mann auf ihre Stationen. Startvorbereitungen beginnen ab jetzt. Start des Triebwerksvorlaufs, Lösen der Halteklemmen vorbereiten. Externe Sauerstoffversorgung kappen und auf Umluftverwertung umschalten. Checkliste beginnen."
Wo waren wir? Das erste Weihnachten fern der damaligen Müllhalde Erde.
Zum Essen gab es Rinderbraten in süßsauerer Soße, gefüllten Truthahn und Tofu. Dazu Unmengen von Beilagen, Salaten und süßen Dingen. Beinahe verschwenderisch viel, aber wie sich am Ende zeigte genau abgewogen, sodass jeder satt werden konnte und alle Teller bis auf wenige Krümel leer wurden.
Da ich erst vor einigen Tagen auf den Mond gekommen war, war dieses Fest auch die erste Gelegenheit ein paar Freundschaften zu schließen. Die nächsten Tage erkundete ich dann die Anlage, lernte die besten Verstecke und geheimen Zugänge kennen und wurde schnell als Tunnelratte bekannt, die in jeden Schlumpfwinkel kam.
So verging die Zeit bis Februar. Dann wurde ich in die Eliteklasse versetzt. Die rosigen Zeiten mit Spiel, Spaß und Freude war vorbei und wurden abgelöst von der Zeit der Gelehrsamkeit, der Ruhe und des Lernens.
00:10:00.
"Checklisten komplett. Alle Systeme auf grün. Erster Trupp Schlafkapseln beziehen." Der Reihe nach verlöschen die Bildschirme der Konsolen und außer mit und dem Navigator verschwinden alle in der Stasis. Jetzt haben wir noch zwei Passagiere aufgenommen. Begutachter der planetaren Regierung, die Kofferweise Datenkristalle mit ihren Ergebnissen mitführten. Tannenbäume gegen zwei Anzugträger mit mehr Informationen als mein Schiffscomputer verarbeiten könnte.
Seltsame Zeiten sind das, Weihnachten 2377. Ob ich meiner Frau einen Gruß senden soll? Wäre wohl sinnlos, die Nachricht käme gegen Mitte Januar erst an. Vorausgesetzt irgendein Satellit leitet sie nicht falsch um, verstückelt sie oder lässt sie gar ganz verschwinden.
00:05:31.
Es ist wohl Zeit diesen Eintrag zu beenden und mich selber vorzubereiten. Die Abdockprozedur ist bereits eingegeben und muss nur noch begonnen werden. Sauerstoff- und Treibstofftanks sind voll, Notfallsysteme an meinen Kapseln angeschlossen. Wenn was sein sollte werde ich innerhalb einer Minute wach und einsatzbereit sein, gepusht durch eine Ladung Adrenalin.
00:03:10.
Ich nehme Platz in meiner Kapsel. Der Rest ist bereits wieder in der Schwebe zwischen Wachsein und Schlafen. Mahlend bewegt sich der Kiefer von unserem Dicken. Er träumt wohl wieder vom Essen.
Gähnend lege ich mich hin und schließe die Kapsel. Prozess beginnen, Aufzeichnung ende.
Ob die Sicherheitssysteme aktiviert worden sind? Vielleicht begegnen wir beim Zurück den Piraten. Ich muss noch schnell ... das kann warten.
Dunkelheit. Schwebe zwischen Wachsein und Schlaf. Bis in sechs Monaten.

Nicolai Rosemann

11.06.2008

Die andere Seite

Mit geschlossenen Augen streckte Larissa ihr Gesicht der kühlen Nachtluft entgegen und genoss einen kurzen Augenblick den Fahrtwind, der den Duft von reifenden Ähren und Sonnenerwärmten Feldern mit sich trug. Hinter ihr quietschten und kicherten Katrin und Andrea als ob sie bereits den ganzen Alkoholvorrat geplündert hätten den sie mitgenommen hatten. Sandra saß am Steuer und lamentierte mit Hingabe über die Abi-Zeugnisausgabe, die ebenso spießig gewesen war wie deren Teilnehmer samt ihren Eltern. Bevor morgen die große Feier stattfinden sollte, hatten die Freundinnen beschlossen ein lang gehegtes Vorhaben durchzuführen bevor sie nicht mehr die Gelegenheit dazu haben würden. Nur Christina starrte unruhig in die aufkommende Dunkelheit, unbeirrt von der Albernheit die den Rücksitz beherrschte. „Ich hätte mich rechtzeitig abseilen sollen anstatt mich auf solche Kindereien einzulassen“ dachte sie erbost und ärgerte sich über den Anflug von Abenteuerlust, die sie dazu verleitet hatte doch mit ins Auto zu steigen. Widerwillig brachte sie ein schiefes Grinsen zustande und fuhr sich mit den Fingern durch ihre vom Fahrtwind zerzauste Kurzhaarfrisur.
Vom Champagner und der Aussicht nie wieder in die Schule zu müssen beschwingt, waren alle begeistert gewesen als Katrin die Idee kam einfach in die Nacht hinaus zu fahren und den Ort zu besuchen der durch seine seltsamen Vorkommnisse und mysteriösen Legenden in den letzten Jahren einen regelrechten Hype ausgelöst hatte. Christinas kurzes Zögern wurde nicht akzeptiert und so fand sie sich kurzerhand in Sandras protzigem Cabrio wieder, welches ein Teil des Lohns für eine erfolgreiche Schulzeit gewesen war.
Nachdem sie eine halbe Stunde lang erfolglos alle beliebten Treffpunkte abgeklappert hatten, erschien die Gabelung an der sie schon früher so oft gezögert hatten und sich nach gegenseitigem Anfeuern gespannt schaudernd und voller Erwartung entgegen aller Vernunft aufmachten um auf dem Grundstück des alten Herrenhauses ihr Unwesen zu treiben und sich am nächsten Tag in der Schule damit zu brüsten wie weit sie ins Haus und dessen Wäldchen vorgedrungen waren. Als sie in die Allee einbogen schien es allen als ob sie eine längst vergangene Zeit betreten würden, die knorrigen alten Bäume, welche die Straße säumten, hoben sich im scheidenden Zwielicht tiefschwarz von ihrer Umgebung ab. Ein letzter Streifen der untergegangen Sonne tauchte die Szenerie in ein gespenstiges Licht. „Erinnert ihr euch an die Sauerei während der Krötenwanderungen die hier die Straße unpassierbar gemacht haben?“ gluckste Katrin und durchriss damit dass Schweigen das sich auf sie gelegt hatte als sie den Weg einschlugen der zum Anwesen führte. Dankbar für die Unterbrechung der seltsamen Stimmung fielen alle prustend mit ein und jede steuerte eine Anekdote zum Thema bei. Sandra strich sich eine Strähne ihres dichten roten Haares aus dem Gesicht und drehte das Radio lauter als ein alter Song gespielt wurde, der sich perfekt einfügte in die Wehmut die alle befallen hatte. Eine nach der anderen stimmte mit ein und bald hatte auch Christina eine Sehnsucht ergriffen die die unbeschwerte Vergangenheit zurückwünschte.
Sie warf einen Blick auf die Wiesen und Felder die hinter den Alleebäumen durch das letzte Fünkchen Sonnenlicht in zartes Grau gehüllt waren und zuckte zusammen als sich auf einem schmalen Feldweg zwischen den Wiesen die Silhouette eines junges Mädchens abzeichnete. Es sah ihr direkt ins Gesicht und schüttelte bestürzt, ja fast flehend den blonden Kopf, die Kleidung wirkte merkwürdig, so als ob sie wirklich aus den 70ern stammte und nicht bloß einem der immer wiederkehrenden Revival-Trends angehörte. „Halt an!“ rief Larissa vom Beifahrersitz, die es ebenfalls bemerkt hatte und der Ansicht war dass dieses Mädchen, ganz allein, nichts auf diesem Feldweg verloren hatte. Sandra bremste quietschend und stellte das Radio ab. „Fahr zurück, da stimmt etwas nicht“ meinte nun auch Andrea. Sandra legte den Rückwärtsgang ein fuhr zurück an die Einmündung des Weges, wo jedoch niemand mehr zu sehen war. „Komisch“ sagte Andrea „Wohin ist die denn jetzt so schnell verschwunden?“ „Was hatte sie überhaupt hier zu suchen? Und warum vor allem habe ich das Gefühl dass irgendetwas passiert ist?“ wunderte sich Larissa. Sandra und Katrin die nichts gesehen hatten versuchten logische Erklärungen zu finden, doch auch die nahe liegende Möglichkeit, dass es sich um die üblichen Halbstarken handeln müsse, die sich hier herumtreiben wie sie es selbst auch vor Jahren getan hatten, konnte die Drei nicht so recht überzeugen. „Es kam mir vor als ob sie uns vor etwas warnen wollte und ihr Blick hat mich wirklich erschreckt, wie in einer dieser Legenden, die man sich immer erzählt hat“ jammerte Christina deren Bedenken sich in voller Entfaltung zurückmeldeten. „So ein Unsinn“ schimpfte Sandra, „Das ist die Umgebung die euch Mimosen mal wieder paranoid werden lässt, genau wie früher, vor allem als wir zum ersten Mal hier waren“ Katrin wollte sich schier ausschütten vor Lachen als sie in die verstörten Gesichter ihrer verängstigten Freundinnen blickte. Langsam löste sich die Spannung und ein Kichern durchfuhr auch die letzte Zweiflerin.
In der Tat waren Katrin und Sandra immer diejenigen gewesen, die unerschrocken und sensationslüstern in jedes Kellerfenster gestiegen waren und darin nach Beweisen für die Gerüchte gesucht hatten die sich um das Haus Wolfskuhlen rankten. Von eingemauerten Kindern und verschwundenen Personen war ebenso die Rede wie von Satanisten die im Keller des Hauses schwarze Messen abhielten und dabei allerlei skurrile Sachen anstellten.
Wie früher schon parkten sie das Auto einige Meter vor der Einfahrt, um die letzten Meter zu Fuß zurückzulegen und den Anblick des Hauses zu betrachten. Als die beiden verwitterten hohen Mauerpfeiler in Sicht kamen, die vor langer Zeit das Tor gehalten hatten, zeichneten sich, weit auf dem Grundstück gelegen, schemenhaft die in Dunkelheit gehüllten Umrisse des Hauses ab. Der Mond war hinter einer Wolke verschwunden wodurch die Sicht aufs Anwesen etwas eingeschränkt war. Nebelschwaden senkten sich auf die Baumkronen die das Grundstück umsäumten und deren Stämme dicht mit Kletterpflanzen umrankt waren. Christina fühlte einen kurzen Moment Unbehagen bevor sie wie früher vom Anblick des einst stattlichen dreistöckigen Herrenhauses gefangen war, über dessen Haupteingang, zu dem eine breite Freitreppe führte, das alte Familienwappen prangte. Der Zustand hatte sich scheinbar in den letzten Jahren erheblich verschlechtert, was der Aura jedoch keineswegs zum Nachteil gelangte. Nach wie vor war es in der Lage den Anwesenden kalte Schauer über den Rücken zu jagen. „Habt ihr gehört dass hier vor ein paar Jahren zwei Mädchen spurlos verschwunden sind?“ fragte Christina. „Man hat nie herausgefunden was mit Ihnen passiert und ob sie nicht hier gestorben sind.“ „Hör auf, das ist ja gruselig“ schimpfte Andrea, schulterte ihren Rucksack und marschierte mit entschlossenem Gesichtsausdruck auf das Haus zu. Die anderen folgten, sich gegenseitig schubsend und erschreckend bis sie fast an der Stelle angelangt waren von der aus man den besten Blick auf das Haus hat, als aus der Dunkelheit plötzlich leises Knacken zu vernehmen war. Der Schreck ließ sie verstummen und während sie angestrengt in die ungefähre Richtung lauschten aus der sie das Geräusch vermuteten sah Larissa zum Haus auf, aus dessen Schornstein Rauch aufzusteigen schien. „Seht euch das an“ flüsterte sie und schaute sich suchend nach den anderen um. Als sie erneut zum Haus zurücksah war von der Rauchsäule nichts mehr zu erkennen. „Verdammt, jetzt fang ich schon an mir Sachen einzubilden“ dachte sie verärgert und beschloss für sich zu behalten was sie meinte gesehen zu haben. „Für die anderen wäre das mal wieder ein gefunden Fressen sich über mich lustig zu machen“ ging ihr durch den Kopf. Die anderen standen immer noch wie erstarrt und versuchten die Quelle auszumachen, von der das Knacken auszugehen schien. „Ist bestimmt nur eine Katze, die auf ihrer nächtlichen Jagd ist um sich ihr Betthupferl zu holen“ vermutete Sandra, zog eine Taschenlampe aus ihrer Umhängetasche und leuchtete damit ins nahe gelegene Gestrüpp in dem sich Unrat befand den jemand zum Unmut aller einfach hier abgeladen hatte. „Ich wette wenn du den Müllsack da aufmachst kommen dir Hände oder Füße entgegen“ kicherte Katrin und erfreute sich daran wie Andrea schaudernd das Gesicht verzog. „Blöde Kuh, nicht für eine Millionen würde ich da rein sehen“ grinste sie und drehte sich zu Sandra um, deren Gesicht vom Lichtkegel der Taschenlampe erhellt war, die sie sich unters Kinn hielt und dazu panisch wimmerte. „Ihr seid nicht ganz dicht“ kicherte Christina und setzte sich in Bewegung. Als das Haus endlich in ganzer Breite zu erkennen war, hatte sich auch der Mond endlich dazu entschlossen wieder hinter der Wolke hervorzukommen und mit seinem silbrigen Schein die Nacht zu erhellen und dem alten Gutshaus zu einem atemberaubenden Charme zu verleihen. „Wahnsinn“ flüsterte Christina ehrfürchtig „Man kann sich direkt ausmalen wie herrlich es hier früher ausgesehen haben muss“. Sie kramte in der Seitentasche ihrer Cargohose, die wie maßgeschneidert auf ihren schmalen Hüften saß und holte eine kleine Digitalkamera hervor um damit den Anblick festzuhalten, der sich ihnen bot. Als sie überprüfte ob das Bild in Ordnung war bekam sie eine Gänsehaut und wischte aufgeregt auf dem Display herum. „Was ist los? Hast du ein Gespenst fotografiert?“ fragte Sandra und nahm ihr die Kamera aus der Hand. „Was ist das denn??“ Mit großen Augen wanderte ihr Blick zwischen dem kleinen Display und dem Haus hin und her. Auf dem Bild war der Umriss einer Gestalt zu erkennen, die an einem der hohen Fenster stand, aus dem Kamin stieg leichter Rauch in den Himmel auf, die Haustür war deutlich zu erkennen und nicht mehr mit Brettern vernagelt. „Mir reicht’s“ rief Andrea, „Ich werde augenblicklich hier verschwinden und wenn ich den ganzen Weg laufen muss!“ „Das musst du nicht“ antwortete Sandra die nun auch genug hatte und damit nicht alleine war. Erleichtert nicht in das Haus zu müssen und von hier wegzukommen setzte sich Larissa als erste in Bewegung um der mittlerweile deutlich bedrohlichen Atmosphäre zu entfliehen.
Als die Fünf beinahe die Torpfosten erreicht hatten, schauten sie noch einmal zurück und das was sie sahen ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Das Haus sah genauso aus wie eben noch auf dem Foto. An den Fenstern hingen Gardinen, die kunstvolle Haustür wirkte wie frisch poliert und glänzte im Mondlicht. Noch bevor sie loslaufen konnten ertönte ein markerschütterndes Quietschen und als sie sich umdrehten mussten sie fassungslos mit ansehen wie laut polternd mit einem Schnappen das bis eben nicht mehr vorhandene Tor ins Schloss fiel. Christina war außer sich und schrie die anderen an dass sie es ja von Anfang an gesagt hätte, während Andreas Gesichtsfarbe von weiß auf grün wechselte. Larissa rüttelte verzweifelt am Tor, das so hoch war dass es unmöglich erschien darüber zu klettern. Die Straße war nicht mehr zu erkennen denn das ganze Grundstück war plötzlich in dichtem Nebel gehüllt. Katrin fluchte laut, Sandra wühlte panisch in ihrer Tasche und blickte entsetzt auf ihr Handy als sie erkannte dass sie keinerlei Empfang hatte. „Das kann nicht sein, ich habe auch kein Netz!“ Christina war kurz davor den Verstand zu verlieren und wie es schien war Andrea schon einen Schritt weiter. „Wir müssen die Nerven behalten!!“ rief Katrin und schüttelte die wachsbleiche Andrea, die starr vor Schreck vor dem Tor stand und kein Wort mehr herausbrachte. „Jetzt nicht durchdrehen“ Sandra zwang sich zur Ruhe und langsam begann ihr sonst so nüchterner Verstand wieder zu arbeiten. „Wir müssen nachsehen ob wir irgendwo durch den Zaun kommen, der ist doch überall kaputt“ „Ach du meinst genau wie das Tor, was es gar nicht gibt“ meinte Christina zynisch und war sich genauso sicher wie alle anderen dass es nirgendwo eine Lücke gab aus der sie entkommen konnten. „Wir müssen da rein“ stellte Katrin fest und deutete aufs Haus, das sie höhnisch anzusehen schien. „Oh mein Gott, seht nur! Da ist Licht in den Fenstern!“ Larissa liefen die Tränen über das Gesicht. „Was passiert hier?“ „Es bleibt nur eine Möglichkeit das heraus zu finden, wir müssen da rein“ wiederholte Katrin entschlossen und sah trotzig das Haus an. „Nur über meine Leiche“ Larissa zitterte am ganzen Körper und klammerte sich an die immer noch erstarrte Andrea. „Wer weiß, vielleicht kommt das ja noch“ Sandra runzelte die Stirn „So leid es mir tut, aber Katrin hat recht, wir können nur mehr erfahren wenn wir das Haus näher untersuchen, vielleicht gibt es dort Anhaltspunkte was hier vor sich geht.“ „Bleib du bei Andrea, wir drei gehen rein.“ Larissa war bestürzt, die Vorstellung allein mit der dem Wahnsinn nahen Andrea hier vor dem Tor zu bleiben jagte ihr Schauer über den Rücken, doch zog sie diese Möglichkeit einem Besuch in dem verrückten Haus vor. „Okay, dann geht. Wir warten hier“. Katrin, Sandra und Christina machten sich auf den Weg zum Haus und ließen die beiden am Tor zurück. An der Stelle an der Christina das Bild gemacht hatte, blieb sie stehen. „Was hast du vor?“ fragte Sandra als sie sah dass Christina die Kamera rausholte und noch ein Foto machte. „Ich weiß auch nicht, aber es interessiert mich halt was und das Foto jetzt zeigt“ Christina sah aufs Display und war nicht überrascht das Haus in seinem vorherigen Zustand zu sehen. „Als ob wir uns auf einer anderen Seite befänden“ „Von was?“ fragte Katrin die kaum glauben konnte was sie sah. „Keine Ahnung, aber hast du eine Erklärung für das was hier passiert? Katrin zuckte mit den Schultern „Nein“ gab sie zu. „Lasst uns weiter gehen“ schlug Sandra vor, die ins Haus wollte bevor sie ihr Mut verließ. „Wie stellt ihr euch das eigentlich vor? Wollt ihr da anklopfen und „Hallo“ sagen?“ An der Tür angekommen beantwortete Katrin die Frage in dem sie die Tür einfach öffnete. „Dann los“. Die Drei schlüpften durch die Tür und fanden sich in einer schwach beleuchteten Halle wieder, in der ein Kaminfeuer brannte. Die Wände waren mit Gobelins behängt, die noch älter zu sein schienen als das Haus selbst. In der Mitte der Halle stand ein Refektoriumstisch aus massiver Eiche, auf ihm lagen Gegenstände mit denen keine etwas anfangen konnte. Nachdem sie etwa eine Stunde ergebnislos sämtliche Räume und Flure durchsucht hatten, betraten sie durch eine der Türen abermals die Halle. „Ich werde das Gefühl nicht los dass wir in die Gründerzeit des Hauses gerutscht sind“ flüsterte Sandra, „Allerdings weiß ich nicht wie das möglich sein soll.“ „Ich halte hier mittlerweile alles für möglich“ Christina rollte die Augen und näherte sich der Treppe zum ersten Stock in dem sich eine Galerie befand, in der Ölgemälde hingen, welche die Familienchronik des Hauses darstellte. Soweit sie sich erinnern konnte war dieses Haus um 1800 auf einer ehemaligen Burganlage erbaut worden. Angeblich waren schon immer seltsame Dinge vorgegangen, die daher rühren sollten dass der Erbauer einen Pakt mit dem Bösen geschlossen haben sollte. Neugierig betrachteten sie die Ahnenreihen als Christina stutzend vor dem Bild eines Mädchens stehen blieb. „Das gibt’s nicht“ murmelte sie „Sie sieht aus wie das Mädchen dass vorhin auf dem Feldweg gestanden hat! Nur dass das Kleid wesentlich schmeichelhafter wirkt als die olle Trainingsjacke.“ Interessiert folgten sie den Bildern bis zum Ende der Galerie. Katrin betrachtete das letzte Bild genauer und rief aufgeregt nach den anderen. „Seht euch das an, die Rechte auf dem Bild hat ein Piercing in der Augenbraue!“ „Unmöglich, wie soll das gehen?“ fragte Sandra und begann zu frösteln, „Ist euch auch so kalt?“ Fast unbemerkt durch das fieberhafte Interesse an den Bildern war die Temperatur deutlich gefallen. Eine Eiseskälte, die die Atemluft in kleinen Wölkchen sichtbar machte, hatte sie alle erfasst. „Vielleicht sollten wir mal nach den anderen sehen“ sprach Sandra, die sich von Sekunde zu Sekunde unbehaglicher fühlte. In der Ferne begann es grollend zu donnern, Blitze durchzuckten die Schwärze der Nacht. Es fiel kein Regen, aber draußen an den Fenstern drückte sich wabernder Nebel gegen die Scheiben. Geheimnisvolle Schatten tanzten an den Wänden und gerade als sie kehrtmachen und zur Tür gehen wollten, erhellte ein Blitz den Raum um ihn anschließend in Grabesschwärze zu tauchen. In dem Moment spürte Christina einen stechenden Schmerz an der Stirn. „Mist, wo bin ich denn jetzt gegen gerannt?“ fluchte sie und tastete mit den Händen in der Dunkelheit herum. Hinter ihr versuchte Katrin in die andere Richtung weiter zu kommen, was ihr jedoch nicht gelang. Sandra stolperte über ihr Kleid und wunderte sich wieso sie es überhaupt trug, ihre Hände ertasteten fremde Kleidung die sie niemals angezogen hatte! Als der nächste Blitz die Galerie erhellte wunderte sich Katrin wie es kam dass sie an der Wand angelehnt, wie aus einem Fenster auf den Flur blickte. Links neben ihr saß Christina auf einem altmodischen Stuhl und wirkte fremdartig in dem seidenen Empirekleid mit hoch angesetzter Taille. Bevor sie begriff was passiert war schrie Sandra zu ihrer Rechten laut auf „Wir sind in der Galerie, auf einem Gemälde!!“ Panisch hörte sie Christina schluchzen „Meine Beine, ich kann meine Beine nicht mehr spüren“. Langsam breitete sich eine lähmende Kälte in ihnen aus, die hoch in alle Glieder kroch und sie bewegungsunfähig zurückließ. Katrin sah plötzlich klar die Bedeutung vor sich, nun wusste sie was „Die andere Seite“ bedeutete. Sandras Gedanken galten der Hoffnung dass Larissa und Andrea eine Möglichkeit finden würden sie hier wieder rauszuholen. Ob sie das jemals schaffen könnten??